Zum Inhalt springen

ADB:Döllinger, Ignaz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Döllinger, Ignaz“ von Carl von Voit in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 315–318, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:D%C3%B6llinger,_Ignaz&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:27 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Dolliner, Thomas
Band 5 (1877), S. 315–318 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Ignaz Döllinger in der Wikipedia
Ignaz Döllinger in Wikidata
GND-Nummer 118680048
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|5|315|318|Döllinger, Ignaz|Carl von Voit|ADB:Döllinger, Ignaz}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118680048}}    

Döllinger: Ignaz D., baierischer Obermedicinalrath und Professor der Anatomie an der Universität München, geb. 24. Mai 1770 in Bamberg, † 14. Januar 1841 zu München, war einer der ersten Anatomen und Physiologen seiner Zeit. Es ist nicht leicht, die Bedeutung dieses hervorragenden Mannes richtig zu bezeichnen, da dieselbe weniger in einer großen Anzahl glänzender Entdeckungen liegt und nur unvollständig aus seinen Schriften abzuleiten ist, sondern außerdem weit über letztere hinaus in der mächtigen Anregung seiner Schüler für wissenschaftliche Forschung zu suchen ist.

Döllinger’s Vater war Leibarzt des zu Bamberg residirenden Fürstbischofs Franz Ludwig v. Erthal und Professor an der medicinischen Facultät der damals zu Bamberg bestehenden Universität. Der junge D. besuchte zuerst die Universität seiner Vaterstadt, wo er vor allem die Naturwissenschaften studirte, um sich der Medicin zuzuwenden, aber auch durch die im südlichen Deutschland neu bekannt werdende Kant’sche Philosophie lebhaft angeregt wurde. Er ging dann zur Fortsetzung seines medicinischen Studiums nach dem im Aufblühen begriffenen Würzburg, und darnach, mit der Unterstützung des seine Talente erkennenden Fürstbischofs, nach Wien und Pavia. In Wien erlernte er bei dem Anatomen Prochaska die Kunst der Einspritzung der feineren Blutgefäße. Pavia war die Schule, zu der damals alle strebsamen jungen deutschen Aerzte wanderten; Joh. Peter Frank und Antonio Scarpa waren die klinischen Lehrer, welche in für die damalige Zeit großartigen Unterrichtsanstalten wirkten, während es an den deutschen Universitäten mit den Sammlungen meist nur kümmerlich bestellt war und bei der ganz ungenügenden klinischen Unterweisung der medicinische Unterricht größtentheils ein rein theoretischer blieb. Daß in richtiger Erkenntniß der Fürstbischof Erthal in Würzburg die klinischen Anstalten reich ausstattete, sowie den klinischen Unterricht reorganisirte, wodurch unter C. C. v. Siebold der Grund zu einer klinischen Schule gelegt wurde, trägt noch heut’ zu Tage zu dem hohen Rufe der medicinischen Facultät in Würzburg bei.

Mit reichen Kenntnissen ausgerüstet kehrte D. nach Bamberg zurück, woselbst er wenige Wochen nach Erlangung der Doctorwürde (1794) eine Professur an [316] der Universität erhielt. Er wirkte dort mit anderen tüchtigen Lehrern sieben Jahre lang und trug Physiologie und allgemeine Pathologie vor, wurde aber, als Bamberg (1801) an Baiern fiel und die Universität aufgehoben wurde, im J. 1803 nach Würzburg berufen, um die Professur für die gesammte Anatomie und die Physiologie zu übernehmen. Dort entfaltete er nun während 20 Jahren die größte Wirksamkeit als Lehrer und Forscher, so daß er bald zum Mittelpunkt des medicinischen Studiums daselbst sich aufschwang und der Begründer der neuen anatomischen und physiologischen Schule wurde.

Im J. 1823 erhielt er als Sömmering’s Nachfolger einen Ruf an die Akademie der Wissenschaften in München, an deren Anstalten und Sammlungen dazumal talentvolle junge Gelehrte ihre letzte Ausbildung und Gelegenheit zu wissenschaftlichen Arbeiten erhielten. Diese, einer weiteren Entwicklung fähige Institution ist später leider einer engherzigen Sparsamkeit zum Opfer gefallen. Außerdem hatte man zu München eine medicinische Lehranstalt für Landärzte und Chirurgen errichtet, an der D. die Anatomie und Physiologie vortrug, welche aber, losgerissen von den übrigen Wissenschaften, selbstverständlich keine Entwicklungsfähigkeit besaß. D. gab sich anfangs in München den Arbeiten für die Akademie und den Bau des anatomischen Theaters hin. Als aber 1826 die Universität von Landshut nach München verlegt wurde, erhielt er die Professur für menschliche und vergleichende Anatomie; nur einige Male las er auf Bitten der Studirenden privatissime die Physiologie; die pathologische Anatomie blieb in München gerade zu einer Zeit, als sie in ihrer Entwicklung einen wesentlichen Fortschritt in der Medicin hervorbrachte, völlig verwaist. D. gelangte an der Universität München niemals zu der großen Wirksamkeit wie in Würzburg; er war in Jahren vorgerückt, und in München bestand keine medicinische Schule mit bestimmten Traditionen, und man verstand es nicht, durch junge, in der Wissenschaft bedeutende Männer frisches Leben hereinzubringen; es gab eine Periode, wo so gut wie nichts für die Entwicklung der wissenschaftlichen Medicin von München ausging, und noch heut’ zu Tage hat die medicinische Facultät trotz aller Anstrengungen mit den noch fortwirkenden Folgen der vergangenen, traurigen Zeit zu kämpfen. Man begreift recht wohl wie D. sich dabei fremd fühlte und sich allmählich auf sich zurückzog.

Von 1827–1839 verwaltete er das Amt des Secretärs der mathematisch-physikalischen Classe der Akademie. Im J. 1833 wurde er in den Obermedicinalausschuß des Landes berufen, in welchem er durch meisterhafte Referate, namentlich wo es auf genaue anatomische Bestimmung der Körpertheile ankam, die wesentlichsten Dienste leistete.

Die Choleraepidemie vom J. 1836 warf auch ihn aufs Krankenlager, und er konnte sich von dem heftigen Anfalle nie ganz wieder erholen und zu voller körperlicher Kraft gelangen. Er nahm von da an immer weniger Antheil an den Fortschritten der Wissenschaft, und starb 1841 an einer durch ein Magengeschwür veranlaßten innern Blutung.

Es bleibt jetzt noch die Aufgabe übrig, die Bedeutung Döllinger’s als Forscher und als Lehrer zu charakterisiren. Das Hauptverdienst Döllinger’s beruht nicht, wie schon gesagt, in der Auffindung vieler Thatsachen, sondern in der Eröffnung neuer Bahnen für die Wissenschaft.

Nachdem die Physiologie durch Albrecht v. Haller eine Zusammenfassung und einen neuen Anstoß erhalten, und die Naturwissenschaften, namentlich die Physik und Chemie, durch große Entdeckungen erweitert worden waren, ergaben sich immer mehr Beziehungen zwischen den Vorgängen in der unbelebten und der belebten Natur, und man erkannte allmählich, daß auch die wissenschaftliche Heilkunde ihre Grundlage in der Kenntniß der Processe im Organismus habe und als ein [317] Zweig der Naturwissenschaft zu betrachten sei. Es ist für uns Nachkommen schwer zu entscheiden, wer an dieser jetzt selbstverständlich scheinenden Erkenntniß den meisten Antheil gehabt hat: D. hat jedenfalls eifrigst dazu mitgewirkt.

D. hatte sich ein außerordentlich großes Wissen, vor allem in vergleichender Anatomie gesammelt und eine seltene Fertigkeit in Herstellung von Präparaten, namentlich der Injectionen der feineren Blutgefäße erworben. Er arbeitete vorzüglich in der vergleichenden Anatomie und der Entwicklungsgeschichte fort, durch welche er die Bildungsgesetze der organisirten Körper zu erkennen strebte, und wurde einer der ersten Begründer der vergleichenden Anatomie in Deutschland. Schon früh erkannte er die große Bedeutung des Mikroskops zur Erforschung der feineren Formen und der Vorgänge im Thier; man hatte allerdings dieses Instrument seit Malpighi und Leeuwenhoeck zu diesem Zwecke angewendet, aber nur gelegentlich und nicht zu consequenten Untersuchungen; D. benützte es in ausgedehnter Weise zu seinen Arbeiten über die Entwicklung und den Blutkreislauf. Er bemühte sich auch mit Fraunhofer und dessen Nachfolger Merz um die Verbesserung der Mikroskope.

Seine bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen sind seine Untersuchungen über die Entwicklung des Embryo, in welcher er, nach C. Fr. Wolff’s Bestrebungen, neue Bahn gebrochen und welche er als Wissenschaft begründet hat. Nachdem er sich zuvor vielfache Erfahrungen gesammelt und die besten Methoden gefunden hatte, und zur Ueberzeugung gekommen war, daß auf diesem Gebiete durch methodische Forschung bedeutende Resultate erlangt werden können, verband er sich (1816) mit Pander aus Riga zu der im großartigen Maßstabe unter Anwendung der künstlichen Bebrütung ausgeführten Arbeit über die Entwicklung des Hühnchens. Der vermögende Pander trug die Kosten der Versuche, sowie die der vollendeten Zeichnungen durch d’Alton, und veröffentlichte unter seinem Namen die Resultate.

Die Beobachtungen der ersten Stadien der Entwicklung, namentlich des Blutes, führte D. recht nahe an die später von Schwann gemachten Entdeckungen der thierischen Zelle und der daraus entstehenden Gewebe. Er hatte beobachtet, daß ursprünglich überall das gleiche Elementargewebe sich findet, aus welchem die verschiedenen Gewebe hervorgehen; das Elementargewebe bezeichnete D. mit dem Namen körniges Urgewebe, das er aus Körnern (die Schwann’schen Zellen), durch einen schleimigen Stoff zusammengehalten, bestehen ließ.

Die Injectionen der feinsten Blutgefäße, z. B. der Darmzotten, und die Beobachtung des ersten Blutkreislaufs und der Blutbildung in der Embryonalanlage brachten ihn zu seinen bedeutsamen Untersuchungen und Ideen über den Blutkreislauf. Da er schon vor der Bildung der Gefäße und des Herzens eine Bewegung der Blutkörnersäulchen im Gefäßhofe des Dotters wahrzunehmen glaubte, so meinte er, die Thätigkeit des Herzens genüge nicht zur Erklärung des Blutumlaufs, man müßte daneben noch eine eigenthümliche Bewegung der Blutkörner annehmen. Keiner vor ihm hat so klar und bestimmt ausgesprochen, daß das Blut bei seiner Bewegung nicht in leere Gefäße einströmt, sondern stets eine zusammenhängende Säule darstellt. Er war es, der Bichat’s Lehre, daß der Puls nicht auf einer fortschreitenden Bewegung des Blutes beruht, vielmehr auf einem gegen eine continuirliche Blutsäule fortgepflanzten Stoß, weiter ausbildete. Die Beobachtung der Gefäßbildung in der Embryonalanlage veranlaßte D., auch die Gefäßbildung in entzündeten Körpertheilen zu verfolgen, welche er in derselben Weise vor sich gehen läßt, wie die erste in der Keimhaut.

Noch befruchtender als durch seine wissenschaftlichen Arbeiten wirkte D. durch den Einfluß auf seine Schüler. D. steht als Lehrer der anatomischen Fächer nach allen Mittheilungen unübertroffen da. Er besaß einen scharfen, [318] durchdringenden Verstand, und in seinem ganzen Wesen eine eigenthümliche Ruhe und Ueberlegtheit; für seiner Anschauungsweise Widerstrebendes hatte er einen schneidenden, gefürchteten Witz bereit. Dieser seiner Natur entsprechend war sein Vortrag nicht blendend in äußerlicher Beziehung, aber von einer lichtvollen Klarheit und bis ins Einzelne durchgedacht, kein Wort zu viel enthaltend. Er war dabei stets bestrebt, das Wesentliche hervorzuheben und das Unwesentliche wegzulassen. In ganz eigener Weise wußte er die anatomischen Verhältnisse plastisch darzustellen, einen Körpertheil gleichsam vor den Augen der Zuhörer aufzubauen. In der anatomischen Vorlesung wurden die Gebilde nicht blos als fertige erläutert, sondern in ihrer Entwicklung und in ihren physiologischen Beziehungen betrachtet. In solcher Weise wußte er vorzüglich der sonst ermüdenden Knochenlehre einen besonderen Reiz zu verleihen und den starren Theilen gleichsam Leben einzuhauchen. Durch diese Eigenschaften war er im höchsten Grade anregend für seine Zuhörer, deren Aufmerksamkeit er unwiderstehlich fesselte.

Die physiologische Vorlesung Döllinger’s hatte, da er sich nicht entschließen konnte bei Unbekanntschaft mit dem Wesen einer Erscheinung leere Speculationen an die Stelle von Thatsachen treten zu lassen, bei dem damaligen Stand des Wissens etwas dürftiges. Nur in einzelnen Capiteln, in denen er bestimmte Kenntnisse hatte, z. B. der Entwicklung und dem Blutlaufe, war er ausführlicher.

Einen noch größeren Einfluß übte aber D. dadurch aus, daß er talentvolle Schüler zu wissenschaftlicher Thätigkeit ermunterte und ihnen den richtigen Weg zur Erforschung der Erscheinungen lehrte. Seine Aufopferung für lernbegierige Studirende war eine unbegrenzte; er nahm sie in seine Wohnung und in seine eigenen Arbeitsräume auf, nur in dem Wunsche, das Wissen zu fördern, und überließ ihnen häufig bereitwilligst die Ergebnisse der Untersuchungen. Bär, Schönlein, Pander, d’Alton, Kaltenbrunner u. A. gehörten zu dieser schönen Vereinigung. In Würzburg gründete er eine zoologisch-physiologische Gesellschaft, in welcher man sich über die im Laboratorium gemachten Arbeiten und andere wissenschaftliche Gegenstände besprach. Dadurch schuf er die erste Schule für vergleichende Anatomie in Deutschland, welche für die Entwicklung der Naturwissenschaft von großer Bedeutung wurde, und es ist keinem Zweifel unterworfen, daß aus seinem Beispiele zum Theil unsere jetzigen physiologischen Institute hervorgegangen sind.

Obwol D. eine durchaus positive Natur war, und bei seinem scharfen Denken stets die Einzelnheiten zunächst ins Auge faßte, um über die Erscheinungen zu einer möglichst klaren Einsicht zu gelangen, und niemals Phantasien an deren Stelle treten ließ, so war er doch, und zwar gerade deshalb, ein Feind einer gedankenlosen Empirie und suchte aus den Thatsachen allgemeine Schlußfolgerungen zu ziehen. Er war ein Verehrer einer ernsten und gründlichen Philosophie und in letzterer wohl bewandert. Die Kant’schen Schriften hatte er genau studirt; für die naturphilosophischen Ideen Schelling’s, mit dem er zeitlebens befreundet war, konnte er sich nur kurze Zeit begeistern, denn er bemerkte bei seinem kritischen Verstande, welcher nach dem Erkennen des wahren Grundes der Dinge suchte und sich mit einer Scheinerklärung nicht zufrieden gab, bald, daß uns nur unter bekannten Bedingungen wohl erworbene Thatsachen, für welche mit philosophischem Geiste die Erklärung zu suchen ist, vorwärts helfen.

Ph. Fr. v. Walther, Denkrede in der k. bair. Akademie der Wissenschaften am 25. August 1841; Nachrichten über Leben und Schriften von C. E. v. Bär 1865. S. 227–281; Rede Kölliker’s, Zur Geschichte der medicin. Fakultät an der Universität Würzburg 1871.