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„Vons“

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Textdaten
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Autor: Hermine Villinger
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Titel: „Vons“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3–6, S. 47–51, 63–67, 79–83, 92-99
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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„Vons.“

Erzählung von Hermine Villinger.

An dem Porzellanschild einer kleinen Parterrewohnung, in einem regen Geschäftsviertel der Stadt, war das Wörtchen „von“ mit schwarzer Tinte so kräftig nachgezogen, daß der Name Feldern daneben sich beinahe unansehnlich ausnahm. Dies und der Umstand, daß Frau von Feldern auch beim Sprechen ihr „von“ über alles Maß zu betonen pflegte, hatte der Familie die überaus kurze, aber vollwichtige Benennung „Vons“ eingetragen.

Man lächelte in der Nachbarschaft, wenn das Paar miteinander über die Straße ging; sie immer in schwarzer Seide, schlank und hager, mit Augen, die eigentlich sehr lebhaft waren, denen sie aber einen blasiert vornehmen Ausdruck zu geben bemüht war.

Auch Herr von Feldern war schlank, er ging immer in Grau, trug einen schön gepflegten Backenbart und weiße glänzende Manschetten bis vor auf die Fingerspitzen. Dies war seine Haupteigentümlichkeit; im übrigen war er die Harmlosigkeit selbst und hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ausgeschlagen – damals, als er mit neunzehn Jahren als junger Fähnrich urplötzlich selbständig im Leben stand.

Am ersten Tag seiner neuen Würde war er noch brav und wohlerzogen zwischen seinen Eltern nach dem Stadtpark gegangen; am zweiten Tag hatte er mit Kameraden gespielt und getrunken, auch sonstige Excesse verübt, wobei er sich in hervorragender Weise blamierte, und – nach zwei Monaten wurde er seinen Eltern heimgeschickt, mit tausend Mark Schulden und der bündigen Erklärung, daß er sich zur militärischen Laufbahn nicht eigne.

Nachdem es sich bei wiederholten Versuchen erwiesen, daß seine Fähigkeiten überhaupt nicht für einen selbständigen Beruf ausreichten, brachte ihn sein Vater schließlich zu einem Advokaten; und hier, als Schreiber und unter beständiger Aufsicht, machte der junge Feldern seine Sache brav wie ein Schulkind und gab keine Veranlassung mehr zum Klagen.

Da er nie mit seinen Kollegen sprach, noch über einen Witz lachte, hielten ihn diese für hochmütig und richteten ihrerseits auch nie das Wort an ihn.

Allein seine Zurückhaltung entsprang einzig und allein seiner schüchternen Gemütsart. Lucia Höpfer, das „Fräulein“ eines gräflichen Hauses, die dem jungen Manne jeden Morgen begegnete, hatte dessen wahre Natur sehr bald durchschaut.

Erst hatte sie ihn angesehen, er sah sie wieder an; sie lächelte, er lächelte ebenfalls; sie grüßte, er zog den Hut. Darauf fingen sie an, miteinander zu reden – das heißt, sie redete, und er hörte voll Andacht zu. Das war ein Schwirren von erlauchten Namen! Seit ihrem sechzehnten Jahre verkehrte Lucia in „hohen Kreisen“ und hatte deren Gewohnheiten, Manieren und Denkungsart überall angenommen; o, sie hatte einen feinen Instinkt, sofort das Richtige zu erraten, und war abwechselnd in einem Hause strenggläubig, im andern aufgeklärt, im dritten exklusiv und im vierten die Leutseligkeit selbst gewesen. Aber im Grunde, ein Dienen war es doch, und sie fühlte sich oft nicht zum sagen unglücklich, so ohne eine Menschenseele, die an ihr hing. Lucia brach in Thränen aus und ließ ihren Begleiter in großer Bestürzung mitten auf der Straße stehen.

Sie ging nun ein paar Tage stumm und steif grüßend an ihm vorbei, und erst nach einer Woche, als die junge Dame einmal eine kleine Wendung nach ihm hinmachte, faßte er Mut und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie überschüttete ihn mit einem Wortschwall von Vorwürfen: er habe kein Herz, sie habe sich ihm anvertraut, aber das rühre ihn nicht, o nein, er bleibe kalt, er sei eben auch ein Mann und wisse die feinfühligen Empfindungen eines Mädchens nicht zu schätzen.

Feldern verteidigte sich so gut er konnte, wußte absolut nicht, was er gethan haben sollte, und bat dringend um eine nähere Erklärung. Nun, meinte sie schüchtern, als Mädchen könne sie doch nicht zuerst sprechen, ob es schön und männlich von ihm sei, dies zu verlangen?

Ein neuer Thränenstrom entstürzte ihren Augen, und Feldern fing an zu begreifen und stammelte in höchster Verlegenheit: „Sprechen Sie mit meinem Vater –“

Die Mutter war tot, und der alte Herr von Feldern, der über eine bescheidene Pension verfügte, kam trotz seiner vernünftigen Bedenken, daß er nicht ewig lebe und sein Sohn zu wenig verdiene, um ein mittelloses Mädchen zu heiraten – gegen die Beredsamkeit einer Lucia Höpfer nicht auf. Sie hätte lieber das Leben gelassen als dieses „von“, durch das sie jenen Kreisen einverleibt zu werden glaubte, in deren Luft sie allein atmen zu können vermeinte.

Der alte Feldern war ein einfacher Mann; er hatte es zum Rechnungsrat gebracht, sein Vater war Geometer gewesen, und man hatte von dem „von“ in der Familie niemals ein Aufhebens gemacht. Er hatte nichts gegen die Freude, die seine Schwiegertochter täglich an den Tag legte, nunmehr Lucia von Feldern zu heißen, wenn sie aber mit ihren „höhern Richtungen“ kam, wie er ihre Versuche nannte, die Gewohnheiten und die Lebensweise ihrer ehemaligen Herrschaften in dem kleinen Haushalte einzuführen, da legte der alte Herr sein Veto ein, und Lucia war so gescheit, sich zu fügen. Sie bewies, daß sie in der That etwas gelernt hatte, denn sie ließ sich nichts anmerken von ihrem Aerger [48] und blieb immer freundlich, so sehr sie auch das spießbürgerliche Wesen ihres Schwiegervaters genierte; auch daß man in einem gewöhnlichen Hause wohnte, neben einem Lädchen, dem ein ewiger Heringsgeruch entströmte, war nicht nach ihrem Geschmack.

Der Schwiegervater bewohnte die beste der beiden nach vorn liegenden Stuben; das Ehepaar schlief in dem schmalen Hofzimmer neben der Küche; man hatte also nur einen Raum zum Speisen und Wohnen; daß es unter solchen Verhältnissen nicht angebracht war, Besuche zu machen, lag auf der Hand. Und gerade danach sehnte sie sich am meisten – da und dort ihre Karte abzugeben und denen, die sie bisher als Gouvernante gekannt, als gnädige Frau entgegenzutreten. Inzwischen war sie die Gnädige, Jungfer und Putzfrau alles in einer Person; kühn, wie sie war, hatte sie auch das Amt der Köchin verwalten wollen, aber der alte Herr zog die Kost aus dem Speisehaus vor, sich energisch wehrend, seine alten Tage mit einer Armensuppe zu beschließen.

Auch hier fügte sich die junge Frau, obwohl sie das viele Geld, das für das Essen draufging, entsetzlich kränkte; wie viel wichtiger war es doch in ihren Augen, schön zu wohnen und sich schön zu kleiden. Sie selber war, dank ihrer außerordeutlichen Geschicklichkeit, die sie von ihrem Vater geerbt, welcher Schneider gewesen, immer aufs zierlichste geputzt, und wenn es irgend einer Ladenjungfer einfiel, sie, ihrer Vornehmthuerei wegen, Baronin zu nennen, so hatte Lucia ihr Ziel erreicht und konnte sich den ganzen Tag vor Vergnügen nicht lassen.

Aber eines Tages starb der alte Herr und mit ihm ging nicht nur die Haupteinnahme der Familie verloren, sondern auch der Halt, die Fessel, deren Lucias Natur bedurfte.

Die Felderns hatten jetzt ihren Speisesaal und ihren Salon; sie machten auch jene Besuche, nach denen Lucias Seele so lange gelechzt hatte. Es waren aber nur einige Kärtchen zurückgekommen, allerdings Kärtchen mit Kronen, die im Salon auf einem versilberten Teller ausgestellt wurden, aber die Einladungen, auf die man gehofft, waren in Jahr und Tag nicht eingetroffen.

Frau von Feldern war nicht die Natur, sich irgend eine Kränkung oder Demütigung anmerken zu lassen. Sie sagte sich, es wird schon noch anders kommen, und machte sich mutig über ihre Pflichten her. Sie waren nicht gering, denn die Familie hatte sich vergrößert, und es war unmöglich, von der bescheidenen Einnahme des Mannes zu leben. Frau von Feldern hatte sich also entschlossen, unter dem Deckmantel tiefster Verschwiegenheit ihr Talent zum Schneidern in Anwendung zu bringen. Sie war so geschickt, so rasch und erfinderisch, daß sie sich ganz vorzüglich zur Leiterin eines großen Geschäftes geeignet hätte, allein Frau von Feldern wußte, was sie ihrem Namen schuldig war. Ein paar Freundinnen verschafften ihr die Kundschaft.

Kam nun eine neue Dame, eingeschüchtert durch das fette „von“ auf dem Porzellanschild, mit der bescheidenen Anfrage, ob sie recht sei, man habe ihr gesagt, hier wohne eine ausgezeichnete Kleidermacherin, so verfehlte Frau von Feldern nie, durch eine gut gespielte Scene ihrer Ehre genugzuthun. Der ahnungslose Kunde wurde in den Salon geführt, und bevor er wußte wie ihm geschah, rang Frau von Feldern mit dem Ausdruck einer Niobe die Hände und teilte der bestürzten Dame unter mühsam unterdrücktem Schluchzen mit, sie sei nicht zum Kleidermachen geboren, sowohl ihre Natur als ihr Name hätten sie zu einem andern Leben bestimmt, allein, was könne der Mensch gegen Schicksalsschläge – einfach nichts; mit dem Falle ihres Mannes vom Pferde hätten seine geistigen Fähigkeiten gelitten und ihn zum Offizier untauglich gemacht, nun müsse sie die Sache in die Hand nehmen, wenn sie nicht anders leben wolle, als sie es gewohnt sei.

Schließlich wurde dann doch Maß genommen und das Nötige verabredet; der Kunde war unter den Reden der Frau von Feldern ganz klein geworden und empfahl sich mit der größten Hochachtung. Kunochen wurde gerufen, der in seinen enganliegenden Höschen, den kurzen Strümpfen und langen blonden Locken wie aus einem englischen Kupferstich geschnitten aussah; er gab der Dame das Geleite, küßte ihr die Hand und machte ihr unter der Thüre einen Diener bis auf die Erde.

Frau von Feldern wußte recht wohl, warum sie immer Kunochen rief und nie Edu – ihren ältesten Sohn. Sie erzog beide gleich streng, mit dem festen Vorsatz, in ihnen zwei außerordentlich feine und hervorragende Menschen heranzubilden. Was sie nicht erreicht, das sollten ihre Kinder erreichen; eine Zierde sollten sie werden jener ersten Kreise, die das Ziel ihrer Sehnsucht geblieben; den Adel hatten sie ja, es bedurfte nur der Epauletten, um sie dort heimisch zu machen; und dann war es ihnen, den Söhnen, vorbehalten, sie als Matrone dort einzuführen, wo sie hingehörte!

Vor der Hand war es aber nur Kunochen, der sie zu diesen Hoffnungen berechtigte. Bei ihm war ihr es vollkommen gelungen, die wenigen Anwandlungen von Eigenwillen zu brechen, die er als kleines Kind gezeigt, und das bißchen Uebermut in jene Form zu bannen, die angenehm wirkte. Er war mit fünf Jahren ein kleines Wunderchen von Wohlerzogenheit, ein Kind ohne alle Unarten, das weder Zorn noch Gefräßigkeit kannte und nie seine Kleider beschmutzte. Es war rührend, wie ihn die Roheit der Gassenkinder empörte, und mit welcher Beflissenheit er ihnen aus dem Weg ging; auch konnte er Schillers „Bürgschaft“, den „Handschuh“ und den „Gang nach dem Eisenhammer“ mit allerlei zierlichen Gesten hersagen. Dagegen Edu! – wie kam dieser derbe klotzige Bursch in diese ätherische, allen materiellen Genüssen abholde Familie!

Frau von Feldern hatte es dahin gebracht, daß an ihrem Tisch nie ein Wort über das Essen verloren wurde; seit der alte Herr tot war, kochte sie selbst; das „Fleisch“ bestand meist nur aus heißer oder kalt aufgeschnittener Wurst; da sich Frau von Feldern zur Herstellung von Gemüse und Kartoffeln so wenig Zeit wie möglich nahm, so war auch die Zukost danach. „An das Essen sollte der Mensch nie denken,“ prägte sie den Ihrigen ein, und nun – dieser Edu!

Er verlangte nichts, aber unablässig glotzten seine großen gierigen Augen die Platten an, so lang noch das Geringste darauf war. Er war ein Jahr älter als sein Bruder und konnte nicht ein einziges Gedicht auswendig; weder Schelte noch Schläge hatten ihn je dazu vermocht, jemand einen tiefen Diener zu machen oder einer Dame die Hand zu küssen. Und wie sah er neben dem reizenden Kunochen aus; alle Bemühungen, ihn zu einer eleganten Erscheinung herauszuputzen, waren erfolglos; er haßte gute Kleider, ging mit dem Ausdruck tiefsten Verdrusses hinter den Seinen her und rieb die Ellbogen an allen Häusern ab. Er fühlte, daß er in seinen engen Sammetkleidern und dem Sammetbarett auf seinem dicken Kopf eine lächerliche Figur spielte, und war daher beflissen, den Sachen wenigstens den Anstrich der Neuheit zu rauben, in der Einbildung, daß man alsdann weniger nach ihm sehen würde.

Frau von Feldern hielt das Gebahren ihres Sohnes für Auswüchse eines schlechten Charakters und ging ernstlich ins Zeug, diesen dem kleinen Gesellen auszutreiben. Er hingegen glaubte, seine Mutter mache sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihn in Kleider zu stecken, darin er sich zu schämen habe, und wenn sie auf seine Bitte um Brot ihn mit der Bemerkung abspeiste: „Ich will keinen fetten Jungen zum Sohn haben“ – so hielt er das für eine ihm unbegreifliche Grausamkeit, gegen die er murrte.

Er begriff freilich nicht, daß seine Mutter ihre triftigen Gründe hatte, den Zuschnitt ihres Haushaltes für bescheidene Magen einzurichten, er begriff nur, daß er Hunger hatte, einen ewig nagenden, ihn bis zur Raserei quälenden Hunger. Daß er unter solchen Umständen kein liebenswürdiges Kind war, sondern mit finstern Blicken umher ging, jeden Augenblick bereit, über sein ihm stets als Muster vorgehaltenes Brüderchen herzufallen, war weiter kein Wunder. Herr von Feldern fuhr zwar manchmal heimlich seinem Aeltesten liebevoll über das schwarze Haar, aber der Knabe hatte es bald weg, daß er an dem Vater keine Stütze hatte, denn es war noch nie geschehen, daß Herr von Feldern seiner Frau widersprochen oder Einsprache gethan hätte, wenn sie eine Abstrafung für nötig fand.

Eines Tages zog Frau von Feldern ihre Knaben mit besonderer Feierlichkeit an, nahm sie bei der Hand und führte sie zum erstenmal den Weg zur Schule. Eduard war sieben, Kunochen noch nicht sechs Jahre alt; aber bei der außerordentlichen Begabung des Kindes wäre ein Zuwarten nur schade gewesen; nein, um den sorgte sie sich nicht; sie sah ihn schon steigen von Klasse zu Klasse; anders stand’s leider mit dem Aeltesten!

So legte sie unter einem ungeheuren Wortschwall dem Lehrer ihr begabtes und ihr unbegabtes Kind ans Herz, und die Knaben rückten nach ihrem Weggehen in die Schulbank. Als an [50] Kunochen die Frage erging, wer er sei, gab er die Antwort: „Ich bin von“. Da ertönte ein großes schallendes Gelächter, und Kunochen hatte von Stunde an seinen Spitznamen weg und wurde von der ganzen Klasse „’s Vonle“ genannt.

Eduards erste That in der Schule war, daß er sich den großen weißen Spitzenkragen vom Hals riß und zerknäult in die Tasche steckte. Zu Hause erklärte er seiner Mutter, sie seien affig angezogen und er wolle nicht anders aussehen wie die anderen Kinder, denn das wäre eine Schande. Frau von Feldern ließ sich von ihrem Jungen nicht belehren, und so nahmen die Kämpfe kein Ende.

Aber indes Kunochen artig spielend oder lernend zu den Füßen seiner Mutter saß, war Eduard eine andere Welt aufgegangen, an der sein bis dahin verbittertes Kindergemüt ein herrliches Genügen fand.

Im Hause des Kaufmanns Schneider, wo sie wohnten, befand sich ein großer nicht eben wohlgehaltener Hof, in dessen Mitte eine herrliche Linde zum Himmel ragte. Eduard hatte die Weisung, im Frühjahr die Blüten zu sammeln und der Mutter zu bringen. Wer nämlich um die Sechsuhrstunde des Nachmittags bei Felderns eintrat, dem mußte der Anblick der um den Thee versammelten Familie den angenehmsten Eindruck machen; der Tisch war äußerst sauber und nett gedeckt; Frau von Feldern hatte den blank gescheuerten Theekessel neben sich und bereitete den Thee mit einer Würde und Sorgfalt, daß der feinste Souchong oder Pecco bei dieser Behandlung hätte zufrieden sein können; es waren aber nur Lindenblüten, die das strudelnde Wasser übergoß. Nach Genuß des Getränkes saß dann die ganze Familie in Schweiß gebadet da, und Frau von Feldern stellte noch außerdem die Anforderung an die Ihrigen, daß jedes diesen Prozeß so gut als thunlich zu verbergen habe, denn sparen sei keine Schande, nur dürfe man sich’s nicht merken lassen.

Herr von Feldern dachte zuweilen ein wenig anders als seine Gattin, aber er hatte schon lange aufgehört, dies zu äußern. Er war nie glücklich gewesen, weder in seinen Entschlüssen, noch in seinen Ratschlägen, so daß er es vorzog, sich nicht länger den Kopf zu zerbrechen, sondern das Schalten und Walten seiner um so viel klügeren und praktischeren Frau zu überlassen. Nur manchmal, wenn sie sich so gar unbillig über das Aeußere ihres Aeltesten ausließ und nicht begreifen wollte, wie sie zu einem so häßlichen Kinde komme, da konnte sich der Gatte nicht enthalten, ihr mit einer gewissen Schadenfreude vorzuhalten: „Er ist Dir ja wie aus dem Gesichte geschnitten.“

Beleidigenderes konnte es für Frau von Feldern nicht geben, denn sie hielt etwas auf ihr Aeußeres: ihre Nase war freilich etwas zu stark und ihr Kinn zu spitz, aber ihr volles schwarzes Haar umrahmte ein schön geschnittenes Gesicht und ihr dunkles Auge hatte einen gebietenden Blick.

Vielleicht wenn sie ihren Jungen oben in der Linde gesehen hätte, würde er ihr auch besser gefallen haben als am Mittagstisch, in ihrer beständig maßregelnden Nähe, vor dem nie nach Wunsch angefüllten Teller. Denn schließlich wußte sie den trotzigen Sinn des Buben doch zu bändigen, eben mit dem Mehr oder Weniger, das sie ihm zum Essen verabreichte, und der Ausdruck des innerlich gekränkten und gedemütigten Kindes wurde dadurch nicht schöner.

Aber dort oben in der Linde, ob es Blüten zu sammeln gab oder nicht, da war der kleine Bursche ein anderer, sobald er seine Wanderungen unternahm in sein Hochgebirge, die Krone; da saß er wie in einem Urwald zwischen dem dichten Blätterwerk, kein menschliches Auge konnte zu ihm dringen, kein „das schickt sich nicht“ und „das gehört sich nicht“ ihn ereilen; er streckte die Zunge heraus, bloß aus Vergnügen, weil es sich nicht schickte; er ließ sein frisches, lautes Kinderlachen ertönen, bloß weil seine Mama ihm gesagt hatte: „So lacht man nicht, das ist ordinär!“ Und was hatte er für Fernsichten; über welch’ eine Unmasse von Dächern sah er hinweg, weit, weit in die Ebene, in deren blaue Ferne die Sonne ihren feurigen Untergang hielt! Lichtete sich die Linde, indem sich ihr Blätterwerk färbte und sich allmählich zu ihren Füßen versammelte, da gab’s für den kleinen Burschen Einblicke in die nähere Umgebung, Köchinnenkämpfe von Küchenfenster zu Küchenfenster, Kinderabstrafungen, die in den Hofzimmern abgehalten wurden – kurz, es fehlte nie an unterhaltlichen und anregenden Scenen; indes, des Knaben höchstes Interesse war stets den Wohnräumen des Kaufmanns Schneider im Erdgeschosse zugewendet. Die Fenster der niedrigen Hofzimmer standen zur guten Jahreszeit stets offen, sowie die Thüre des kleinen Speisezimmers, zu welchem ein paar Stufen führten. Das ganze Leben und Treiben der Leute spielte sich auf diese Weise ebensogut im Hof wie in den Stuben ab. Zur Sommerszeit wurde an dem Tisch unter der Linde zu Mittag gespeist, gevespert und Abendbrot gegessen, und Herr Schneider wurde in den heißen Zeiten nicht müde, seiner geliebten Linde Gießkanne um Gießkanne erfrischenden Wassers zuzutragen. Für Eduard aber war dieser Mann mit dem zerknitterten Hemdenkragen und dem mit Flecken aller Art übersäten Rock das Höchste, was es auf der Welt gab. Immer kam er mit einer Zeitung daher geschossen und war außer sich über irgend einen Hagelschlag, eine Ueberschwemmung oder über sonst ein Unglück, das in der Welt geschehen war. Aber nur was das Volk anging, interessierte ihn, dessen Freuden und Leiden wären die seinen; gleich nahm er seinen Hut und lief davon, um da und dort sein Scherflein an eine Sammelstelle zu tragen. Anders war’s, wenn in der „haute vollée“, wie sich Herr Schneider ausdrückte, etwas vorgekommen war; da rieb er sich die Hände und freute sich, ob sich’s um ein Unglück oder um einen Skandal handelte, und hielt seine Rede, immer dieselbe, ob er am Wirtstisch oder an seinem eigenen saß.

„Ganz recht, freut mich, wenn der Herr Baron einen Lumpenstreich gemacht und der Graf ein Schwindler ist – sollen sehen, daß sie auch nur Menschen sind, Menschen wie wir, gut und schlecht. Beneid’ sie nicht, bin kein Sozialdemokrat und will sie nicht zu Grund’ richten, mögen ihren Namen behalten und ihre Grafenkronen und seidenen Betten dazu, aber sie sollen mir nicht in meinen Laden kommen wie die Pfauen. Ich bin der friedfertigste Mensch auf der Welt, aber sowie ich den Hochmut wittere, krieg’ ich ein Gallenfieber, ich könnt’ dann alles krumm und klein schlagen und so einen ‚Nas’-in-die-Luft‘ an den Beinen aufhängen. Aber ich nehm’ mich zusammen, denn ich sag’ mir – so lang’ die Welt steht, kommt der Hochmut vor dem Fall, nur werden die Menschen nie gescheiter.“

Mehr als diese Reden machte auf Eduard das „Nimm Dir – nimm Dir!“ Eindruck, womit Herr Schneider seine zwei Lehrlinge zum Essen aufforderte, während er selbst alle paar Augenblicke vom Tisch aufsprang und einem entsetzlich unruhigen kleinen Mädchen nachlief, das nicht am Tisch still sitzen konnte; unter den heißesten Bitten und Versprechungen nötigte er dem Kind bald eine Gabel voll Fleisch, bald einen Löffel mit Gemüse auf und war immer vergnügt, wenn er mit seiner Fütterung nicht unverrichteter Sache abziehen mußte.

Eduard malte sich’s aus, wie wunderschön das wäre, wenn am elterlichen Tisch auch solches „Nimm Dir – nimm Dir!“ an der Tagesordnung wäre und man so nach Herzenslust drauf los essen dürfte wie bei Schneiders. Aber welch’ ein Unterschied zwischen dem vollständigen Sichgehenlassen an diesem wohlversorgten Tisch und den Mahlzeiten im elterlichen Hause!

Und als sich eines Sonntags Eduard, im Hinblick auf die paar dünnen Wursträdchen auf seinem Teller, nicht enthalten konnte, mit einem Seufzer zu bemerken: „Heute haben Schneiders Gansbraten –“ da wurde der unbescheidene Sprecher mit ein paar Ohrfeigen zurechtgewiesen, daß ihm zu der kargen Mahlzeit auch noch der Kopf brummte.

Es gab nämlich nicht leicht zwei Menschen auf Gottes Erdboden, die sich mehr haßten als Frau von Feldern und der Kaufmann Schneider. Sie war für ihn der leibhaftige Inbegriff jenes Hochmuts, den er mit seinem Ingrimm verfolgte, während sie ihn nie anders als den bethranten Mann mit dem Heringsduft nannte. Sie bekriegten einander und lebten sich zu Leid, wo sie nur konnten, und alle paar Quartale flogen die Wohnungskündigungen zwischen dem Hausherrn und Frau von Feldern nur so hin und her, wurden aber immer wieder durch den demütig und freundlich bei Herrn Schneider vorsprechenden Gatten rückgängig gemacht. Denn hier blieb der sonst so nachgiebige und willensschwache Mann fest – er wollte das Haus nicht verlassen, in dem seine Eltern gestorben waren. Alles Reden und Drohen von seiten seiner Frau glitt an ihm ab; so oft sie gekündigt hatte, legte er sich ins Bett und stand nicht eher auf, bis sie ihm erlaubte, mit dem Hausherrn zu reden.

Frau von Feldern aber wäre aus mehr als einem Grunde gern gezogen; vor allem schämte sie sich, ihre spärlichen, kargen Einkäufe bei Herrn Schneider zu machen, und holte deshalb ihren Bedarf Gott weiß wo des Abends zusammen; allein sie näherte sich [51] nie dem Hause, ohne daß Herr Schneider sie händereibend unter der Thür erwartete.

„Einkäufe gemacht, Frau von Feldern, recht billige Einkäufe?“ lautete seine stete Frage, und sie vergalt ihm die Bosheit mit Entgegnungen wie: „Man wird ja ohnmächtig in Ihrem Lädchen, Herr Schneider, wenn man nicht Ihre gottgesegneten Geruchsnerven besitzt.“

So sehr sie nun übertrieb – im Schneiderschen Geschäft ging’s in der That nicht übermäßig reinlich zu; er ließ so ziemlich fünfe gerade sein, und es genierte ihn nicht, daß seine halbe Wohnung voll Kisten und Kistchen stand bis heraus in den ebenfalls vollgekramten Hof. So oft nun aber Frau von Feldern ein bissiges Wörtlein über diese Angelegenheiten fallen ließ, überkam Herrn Schneider ein plötzliches Grausen vor seiner Unordnung, und es war in solchen Zeiten nicht gut Kirschen essen mit ihm. In dieser Stimmung stürmte er denn auch eines Tages, wie er ging und stand, in die Feldernsche Wohnung und teilte der Dame des Hauses mit nicht zu verkennender Genugthuung mit, ihr wohlerzogenes Söhnlein Eduard habe ihm eine feine Göttingerwurst aus einer seiner Kisten im Hofe gestohlen.

Frau von Feldern rief ihren Aeltesten herbei, dem noch verräterische Spuren an den Fingern klebten, und nun wurde vor den Augen des Klägers die Strafe an dem kleinen Verbrecher vollzogen. Sie fiel aber so aus, daß es dem im Grunde höchst gutmütigen Manne himmelangst wurde und er, sich selber verwünschend, der unbarmherzigen Frau ein Halt ums andre zurief. Aber sie hörte erst mit Zuschlagen auf, als ihr der Atem ausging.

„Erziehung ist alles,“ sagte sie zu Herrn Schneider, „wissen Sie, wir erziehen unsre Kinder; was kostet die Wurst?“

Herr Schneider bückte sich zu dem dumpfschluchzenden Buben nieder und suchte ihn aufzuheben.

„Was kostet die Wurst?“ wiederholte Frau von Feldern.

„Ach Gott, was wird sie gekostet haben,“ stammelte Herr Schneider. „Schweiß bat sie gekostet – wie kann man ein Kind so schlagen!“

„Kümmern Sie sich nicht um meine Kinder; wenn Sie mich aber wieder beehren sollten, so bitte ich mir aus, daß Sie in einem anständigen Rock erscheinen; Sie nehmen diese zwei Mark!“

Er war so verlegen und geniert, daß er that, was sie wollte, und sich schleunigst zur Thür hinaus drückte. Drüben knirschte er freilich, daß er sich von der hochnäsigen Person so hatte dran kriegen lassen; im tiefsten Innern aber quälte er sich um den geprügelten Jungen und konnte sich nicht genug schämen, ihn angezeigt zu haben.

Der folgende Tag war ein Sonntag; Eduard stand unter der halbgeöffneten Hofthür mit einem Ausdruck dumpfer Wut und nagte an der Unterlippe; er war noch immer in der Strafe für seine That, hatte bei Tisch nur Kartoffeln bekommen und sollte nicht zum Sechsuhrthee erscheinen. Der Sonntag war aber Mamas „Jour“, da ging’s ihm immer am besten, denn da war die Aufsicht keine so strenge. Er stand und starrte die Linde an, die, schmuck und jungbelaubt, ihre Zweige zum Himmel streckte. Aber dem bestraften Sünder war’s heute nicht ums Klettern zu thun; aus Verdruß und Langerweile sah er der kleinen Gustel zu, die im Hofe mit ihren Puppen spielte und ein gar geschäftiges und lebhaftes Wesen an den Tag legte. Sie war ein kleines kraushaariges Dingelchen mit den treuherzigsten Augen der Welt, und ihr Vater hatte keinen Augenblick Ruhe vor ihr. Er saß auf der Treppe des Eßstübchens, in seine Zeitung vertieft; kam dann die Kleine und klagte: „Vaterle, mein Pupple ist krank“ und legte er – dabei aber immer weiterlesend sein Gesicht in tausend Verzweiflungsfalten, so war das Kind zufrieden und lief wieder fort. Zuweilen aber weinte er, wenn er lachen sollte, oder umgekehrt, und dann wurde er gehörig gescholten, war gar kein „liebs Vaterle“ und hatte alle Mühe, sich wieder in Gunst zu setzen. Schließlich stellte er den Frieden durch ein großes Butterbrot her, auf das er noch außerdem Zucker streute. Nun war die Kleine zufrieden, stellte sich mitten in den Hof und machte Anstalten, in ihr Vesperbrot zu beißcn, als sie Eduard unter seiner Hofthür entdeckte, dessen Augen mit unverhohlener Gier an ihrem Butterbrot hingen; schnurstracks ging sie auf ihn zu und forderte ihn auf: „Beiß auch –“

Er ließ es sich nicht zweimal sagen und verschlang gleich das halbe Butterbrot. Des freute sich die Kleine und befahl, ihm die andere Hälfte hinhaltend:

„Das auch!“

Es war im Nu weg.

„Bist jetzt satt?“ fragte sie.

Eduard schüttelte den Kopf.

„Ich bin nie satt.“

Da lief sie zu ihrem Vater. „Schnell noch ein Butterbrot, ’s pressiert, Vaterle!“

Herr Schneider, der dem Beginnen der Kinder zugeschaut, beeilte sich, was er konnte, den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, und sah dann mit innerer Genugthuung zu, wie die Kleine den dickköpfigen Jungen fütterte, der mit fabelhafter Geschwindigkeit auch dies zweite Butterbrot vertilgte. Aber auf die Frage der Kleinen, ob er jetzt satt sei, schüttelte er wiederum den Kopf, und erst nach dem fünften Butterbrot kam’s zögernd über seine Lippen:

„Ich glaub’, jetzt bin ich beinah’ satt.“

Da rief Herr Schneider den Jungen zu sich; es war ihm ein wahres Bedürfnis, sich in dessen Augen zu rechtfertigen.

„So oft Du Hunger hast, komme nur und halte mit uns; nur, weißt Du, nehmen darf man nichts, da muß Strafe sein; ich war auch einmal so ein kleiner Knirps wie Du und hab’ tüchtig Schläg’ gekriegt – ja was hab’ ich denn nur genommen? – ich glaube, meines Vaters Taschenmesser: das ist so der Welt Lauf; nun spielt miteinander und laßt mich meine Zeitung lesen!“

Eduard wurde alsbald zum willigen Pferdchen, ließ sich von Gustl vor den Puppenwagen spannen und fuhr mit einem solchen Ungestüm um die Linde herum, daß es ein lustiges Unglück ums andere gab und die Unterhaltung an Abwechslung nichts zu wünschen übrig ließ.

Herr Schneider sah zwar in seine Zeitung hinein, aber seine Gedanken gingen ihren eignen Weg. Natürlich war’s ein Unrecht, den Buben hinter dem Rücken seiner Mutter herauszufüttern, aber wie verlockend, der hochmütigen Person das zu Leid zu thun! Für Eduard konnte die Sache zwar ungünstige Folgen haben; entweder es kam heraus und er erhielt schreckliche Schläge, oder er wurde zum Lügner, um sein Geheimnis festzuhalten, und das war noch schlimmer.

„Nein,“ sagte sich Herr Schneider, „es darf nicht sein, es thut mir sehr leid, aber es darf nicht sein.“

Indes Eduard stellte sich am andern Tag mit so rührender Pünktlichkeit um die Butterbrotzeit ein, daß Herr Schneider seine guten Vorsätze vergaß und den Knaben nach Herzenslust zugreifen hieß.


[63] Am nächsten Sonntag war Edu wieder in der Strafe und sprang seelenvergnügt mit Gustel im Hof umher; er hatte mit Absicht sein sammetnes Barett in die Gosse geworfen, um vom sonntäglichen Thee ausgeschlossen zu werden, der allen Reiz für ihn verloren hatte, seit er am Tische des Herrn Schneider dessen nimmer müdes „Nimm Dir – nimm Dir!“ befolgen durfte.

Frau von Feldern aber saß in ihrem schwarzen Seidenkleid, mit einer Tüllrüsche bis an die Ohren, in einem Fauteuil ihres Salons und wartete auf ihre Gäste. Dies war die einzige Zeit, in der sie ihren Händen einmal Ruhe gönnte, denn kaum waren die Gäste gegangen, so waren diese fleischlosen langen Finger schon wieder in Thätigkeit.

Herr von Feldern im grauen Anzug, die Hände mit den langen Manschetten auf dem Rücken, ging unablässig auf und ab, vom Salon in den Speisesaal und umgekehrt. Seine Frau wurde manchmal ganz nervös von dieser „ewigen Pendelei“, wie sie die Promenaden des Gatten nannte, allein sie ließ sich von dem, was in ihr vorging, nichts anmerken; sie sagte sich: etwas muß der Mensch haben, und alles andre wäre teurer als dies Vergnügen!

Kunochen öffnete die Thüre, als es klingelte, und der erste Gast, Frau Müller, eine Dame reifen Alters, kam hereingerauscht – sehr wohlbeleibt, äußerst elegant, mit Schmuck überladen und einer Stimme wie eine Trompete. Frau Müller war die beste Kundin der Frau von Feldern, gab dieser durch ihre Putzsucht reichlich zu verdienen und konnte sie im Grunde ihres Herzens nicht ausstehen; aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der zweite und letzte Gast des Hauses, Fräulein Malchen, spielte die Vermittlerin zwischen den beiden stets auf dem Kriegsfuß verkehrenden Damen, indem sie es verstand, jeder recht zu geben, und sich selber nie anmaßte, eine Meinung zu haben. Frau von Feldern protegierte in ihr eine Künstlerin; „Malchen“, wie sie im ganzen Theater, vom Intendanten bis zum letzten Choristen, genannt wurde, Malchen war seit ihrem zehnten Jahre ein Mitglied der Hofbühne und all’ die Zeit her nicht um eines Haares Breite von jenem damals eingelernten papageiartigen Ton abgewichen, mit dem sie von den Kinderrollen in die der jugendlichen Zofen und dann allgemach in das Fach der reiferen Vertrauten vorgerückt war.

Und wie sie auf der Bühne nie eine Hauptrolle spielte, so geschah es ihr auch im Leben; nie verließ eine Primadonna oder eine Tragödin das Theater, ohne sich von dem schluchzenden, sie an die Bahn begleitenden Malchen mit Gewalt losreißen zu [64] müssen. Und immer geschah es wieder, daß all’ die Versprechungen, all’ die Schwüre ewiger Freundschaft von der Scheidenden vergessen wurden und weder eine Einladung noch ein Brieflein das trostlose Malchen in ihrem Schmerze tröstete. In gerechter Wut über die erbärmliche Undankbarkeit des menschlichen Geschlechtes, hing sie dann flugs ihr Herz an den nächsten „Stern“ der Hofbühne, sich für die erlittene Kränkung und Zurücksetzung dadurch schadlos haltend, daß sie der neuen Freundin alle Toilettengeheimnisse, Liebesabenteuer und Familienverhältnisse der Treulosen preisgab. Hierauf war sie wieder ganz Aufopferung und Beflissenheit, nahm alle Unannehmlichkeiten, die der Künstlerin widerfuhren, für persönliche Beleidigungen und wußte noch im allerletzten Moment Rats für eine verunglückte Toilette, mit der sie zu Frau von Feldern rannte.

Diese hatte, seit sie Malchen protegierte, zwei Nähmädchen in ihrer Schlafstube sitzen und immer vollauf zu thun. Aber auch Malchen fand ihre Rechnung bei dem Verkehr; im ganzen Theater wußte man: Malchen ist des Sonntags bei „Vons“, Malchen hatte ihren Familienanschluß, mochten ihr noch so viele Freundinnen untreu werden, Malchen ist niemals verlassen!

Auf dem Theetisch der Frau von Feldern befand sich am Empfangstag eine zweite Theekanne mit wirklichem Thee und ein silbernes Brotkörbchen mit wirklich belegten Butterbrötchen.

Frau Müller saß kaum an ihrem Platz, so erkundigte sie sich auch schon nach dem fehlenden Eduard, dem sie aus purem Widerspruch und Frau von Feldern zum Trotz ihre Vorliebe geschenkt hatte.

Als ihr die Antwort wurde, Edu sei wieder in der Strafe wegen seiner entsetzlichen Ungebärdigkeit, verschluckte sich Frau Müller fast – sie hatte immer den Mund zu voll – mit solchem Eifer nahm sie sich des Abwesenden an.

„Immer ist der arme Bub’ in der Straf’ – warum denn? Weil er einen eigenen Kopf hat – nun ja, Sie werden noch an mich denken – aus dem wird was, das sag’ ich, die Müllern – Buben müssen Buben sein und keine Affen, ich für meine Person kann diese geschniegelten kleinen Affen nicht ausstehen!“

Frau von Feldern wechselte einen Blick mit Malchen; man verstand die Anspielung, aber man schwieg; Frau Müller war es nämlich einmal begegnet, ihr Butterbrot mit der Butterseite auf das Tischtuch fallen zu lassen. Nun gab es im Feldernschen Hause kein größeres Verbrechen als das Beschmutzen eines Tischtuches. Kunochen war deshalb über diese Unthat so entsetzt gewesen, daß er in die Worte ausbrach: „O Du Schweinchen, Du Schweinchen!“

Seither konnte Frau Müller den kleinen flachshaarigen Buben nicht mehr ausstehen, um so mehr, als sie bemerkte, daß er ihr fortwährend auf die Finger sah und sie auf diese Art zwang, auf sich acht zu haben.

Frau von Feldern, immer beflissen, erziehlich zu wirken, suchte der Unterhaltung eine geistreiche Wendung zu geben.

„Ich bin doch sehr glücklich, daß sich endlich der Zeitgeist der Frau bemächtigt und wir in unserer geistigen Bedeutung nunmehr gewürdigt werden.“

„Ja,“ sagte Malchen, „Gott sei Dank, daß es jetzt nicht mehr Mode ist, sich zu schämen, wenn man ledig ist, sondern im Gegenteil!“

Frau Müller lachte laut auf.

„Ich thät mich doch schämen, nein, das macht mir niemand weis, daß ledig sein keine Schand’ sei – ich war zweimal verheiratet und hätt’ zum drittenmal geheiratet, wenn mir nicht gerade noch schnell mein erster Mann mit der Zipfelkapp’ erschienen wär’! ‚Frau,‘ hat er gesagt und hat nur mit dem Finger gedroht; Jesses Gott, hab’ ich gedacht, am End’ holt er dich – und hab’s Heiraten bleiben lassen.“

Frau von Feldern rümpfte die Nase. „Wie mag ein gebildeter Mensch an Spuk glauben.“

„Glauben Sie vielleicht, ich thu’s; ’s fällt mir nicht ein,“ ereiferte sich Frau Müller, „ich glaub’ ganz gewiß an keine Gespenster, aber das eine Mal hab’ ich eins gesehen, und da beißt keine Maus den Faden ab.“

„Aber nicht wahr,“ wandte sich Malchen an Frau von Feldern, „wenn auch Frau Müller in der Hauptsache recht hat, ein lediges tugendhaftes Mädchen ist trotzdem eine ehrenhafte Person?“

„Das ist sie,“ unterbrach sie Frau von Feldern, „den Wert der Frau bestimmt weder das viele Heiraten noch das Ledigsein; unsere Auszeichnung liegt in uns selbst, und es giebt tausend Ehen, in denen der Mann gar nichts ist und die Frau alles –“

Malchen fiel Frau von Feldern um den Hals. „Sie sind immer so geistvoll!“

Herr von Feldern betrachtete angelegentlich seine Manschetten, und Kunochen, der von der ganzen Unterhaltung nichts verstanden hatte, rief vergnügt aus:

„Die Mama hat doch immer recht!“

Er wurde von Malchen abgeküßt und ein geniales Kind genannt, und schon im nächsten Augenblick stand er mitten im Zimmer und deklamierte den „Handschuh“.

„Jesses Gott, wenn ich doch nur die Viecher nimmer aufspazieren hören müßt’,“ murmelte Frau Müller, und ihre verzweifelten Blicke flogen von einem Gegenstand des Zimmers zum andern. Sie sprang auf, als Kunochen eben Atem schöpfte, um die „Bürgschaft“ anzufangen, allein Frau von Feldern drückte den Gast mit Gewalt auf seinen Stuhl nieder:

„Ich bitte Sie, Schillers Gedichte, Frau Müller – sollten Sie für das Höchste auf Erden, für die Poesie, kein Interesse haben?“

So etwas konnte man doch nicht auf sich sitzen lassen: Frau Müller hörte mit innerlichem Knirschen die „Bürgschaft“ an und dann noch den „Gang nach dem Eisenhammer“. Herr von Feldern schnarchte dazu, und allmählich wirkte das sanfte Geräusch auch beruhigend auf das erregte Gemüt der Witwe.

Als sie, nachdem sie sich so schnell als möglich nach den stattgehabten Genüssen verabschiedet hatte, vor das Haus trat, sah sie den Herrn Schneider vor seiner Ladenthür stehen und rauschte mit einem „Hol Sie der Teufel, grüß Sie Gott, Herr Schneider!“ auf den Mann zu.

„Warum soll mich denn der Teufel holen?“ fragte er.

„’s muß halt wo ’naus,“ gab sie zur Antwort, „denn wenn ich von da drin komm’, ist mir’s zu Mut wie einer Lokomotiv’, und ich möcht’ schnaufen und fauchen und alles in Grund und Boden ’nein rennen; o Herrgott, ist das alle Sonntag eine Tortur!“

„Ja, warum gehen Sie denn immer wieder hin?“ fragte Herr Schneider.

„Aber ich bitt’ Sie, was soll ich denn sonst mit meinem Sonntagnachmittag anfangen, daheim bleiben kann man doch nicht! und dann, schauen Sie, hat’s auch sein Guts – jetzt freu’ ich mich wieder die ganze Woch’ über meine Natürlichkeit, und daß ich mich nimmer anzustrengen brauch’ wie eine Prinzeß. Ach Gott, wenn ich’s ihr doch einmal sagen könnt’, wie mir’s auf der Seel’ sitzt – wenn ich sie einmal niederdonnern könnt’ –!“

„Aber wer hält Sie denn davon ab,“ unterbrach sie Herr Schneider, „so thun Sie’s doch ins Kuckucks Namen!“

„So, ja hopsa, daß sie mich beim nächsten Kleid in allen Ecken und Enden einpreßt und mir am End’ die neueste Mode unterschlägt! So ’was ist schon dagewesen, und wenn ich alles vertrag’, das vertrag’ ich nicht! Leben Sie wohl, Herr Schneider, und das ist gewiß, wir zwei verstehen sich und dabei soll’s bleiben!“

Kunochen hatte eines Tages den Bruder dabei entdeckt, wie er sich zur Vesperzeit bei Herrn Schneider gütlich that. Erst drohte er damit, Eduard bei der Mutter zu verklagen, dann aber gingen die Brüder einen Handel miteinander ein, indem Eduard versprach, dem Bruder die Schulaufgaben als Entgelt für die Wahrung des Geheimnisses zu machen.

Kunochen mußte nämlich die Eigenschaften, welche die Mutter so sehr an ihm rühmte – daß er wie ein Vogel aß und all’ seine freie Zeit bei ihr in der Stube verbrachte, mit einem vollkommenen Mangel an Kräften büßen; daher, welch willkommene Gelegenheit, dem Bruder seine Aufgaben zuschieben zu können! Er brachte seitdem bessere Noten mit nach Hause, nur für das Mündliche blieben sie schlecht; allein Frau von Feldern lief immer wieder in die Schule, um den Lehrern, deren Schrecken sie war, begreiflich zu machen, daß, wenn Kunochen schlecht antworte, dies nur an seiner Schüchternheit liege. Er habe das von ihr, auch sie habe in der Schule, sobald eine Frage an sie gestellt wurde, den Kopf verloren, obwohl sie mehr gewußt habe als die ganze Klasse.

Kunochen machte sich das unglückliche mütterliche Erbteil sofort zu nutze und spielte so trefflich den Bestürzten und Fassungslosen, daß er die Lehrer wirklich damit täuschte und sie ihn für befähigter hielten als seinen Bruder.

Eduard gab nie unverständige Antworten, aber er lernte schwer auswendig und seine Aufgaben waren hudelig und schlecht [66] gemacht. Daran war außer dem Umstand, daß er zu viel Zeit an die Aufgaben seines Bruders verwenden mußte, noch etwas anderes schuld: Eduard wollte aus dem Gymnasium heraus.

Er war durch und durch angesteckt von den Gesinnungen des Herrn Schneider, der den Bürgerstand als den einzig richtigen in der Welt pries, in dem allein wirklich freie und unabhängige Männer zu gedeihen vermöchten.

„Ich kann thun, was ich will,“ sagte er zu dem begierig an seinen Lippen hängenden Knaben, „ich habe keinen Vorgesetzten, nach dem ich meine Meinung, meine Gesinnung zu richten brauche; der Beamten- oder Offiziersstand aber, was ist das anderes als Schulzwang bis ins graue Alter!“

Nicht auf einmal, so nach und nach hatte Herr Schneider des Knaben Sinn mit dergleichen Redensarten gefangen genommen; allemal wenn Frau von Felderns Hochmut den hitzigen Mann wieder in Harnisch gebracht, schwiegen dessen Gewissensbisse; er sprach von neuem in den Knaben hinein und freute sich, mit anzusehen, wie so ganz anders sich der kleine Mann entwickelte, als es seiner Mutter lieb sein mochte. Edu war ein gesunder kräftiger Bursche geworden, der nicht mehr von seinem knurrenden Magen abhing, sondern schon sein Lebensziel im Auge hatte. Er wollte Kaufmann werden: sein Ideal war die ungezwungene Fröhlichkeit und Behagen atmende Häuslichkeit des Kaufmanns Schneider; er gehörte längst dazu und saß vergnügt bei der Abendmahlzeit, wenn seine Mutter ihn im Bett vermutete.

Bei Schneiders standen Teller und Schüsseln, alle mehr oder weniger zerstoßen oder gesprungen, auf einem blau und gelb karrierten Wachstuch; es fielen keine Bemerkungen über die wenig schöne Art, wie jeder Messer und Gabel handhabte; man schmatzte lustig drauf los, sprach mit vollem Munde, und der Herr Schneider oben am Tisch gab kein besseres Beispiel. Eduard hatte es anders gelernt, allein wie er sich einstens seiner neuen Mützen und Kleider geschämt hatte, so schämte er sich jetzt seiner besseren Manieren und gab sich die erdenklichste Mühe, es den anderen gleich zu thun. Mitten aus diesem Beginnen riß ihn eines Tages die kleine Gustl:

„Du mußt nicht meinen, daß Du auch so wüst thun mußt, es ist viel schöner anders.“

Eduard wurde dunkelrot und merkwürdigerweise erfaßte diese Scham wie eine ansteckende Krankheit auch sämtliche Anwesende, Herrn Schneider an der Spitze, und alle sahen stumm und betreten nach der kleinen Sprecherin hin, die fein zierlich ihre Gabel in der Hand hielt, kerzengerade da saß und mit geschlossenen Lippen kaute.

Niemand wußte, wie es kam, aber die vielen sich bisher auf dem Tisch stoßenden Ellbogen waren plötzlich von der Oberfläche verschwunden, man hörte kein Schmatzen, man sah keine schmutzigen Hände mehr. Nur Herr Schneider schlürfte nach wie vor seine Suppe hinunter und gab sich die erdenklichste Mühe, gegen die neue Ordnung der Dinge stand zu halten, indem er verdrossen in sich hinein fluchte: „Will ich die Feldernschen Manieren an meinem Tisch? Hol’ sie der Teufel!“

Aber er holte sie nicht, sondern der gute Herr Schneider mußte eine Erfahrung machen, auf die er nicht gefaßt gewesen war – nämlich, daß in gleichem Maße, wie er der Mutter den Sohn abspenstig machte, ihm sein Kind abspenstig gemacht wurde – und zwar durch eben diesen Eduard. Er, der Vater, war nicht länger das Ideal seines Augapfels und hatte aufgehört, für sein Kind im Glanze der Unfehlbarkeit zu wandeln – den ganzen Tag mußte er hören:

„Vaterle, so macht man das nicht, der Eduard macht’s ganz anders –“

„Vaterle, warum hast Du nur immer so viele Flecken an Deinem Rock, siehst Du nicht, wie sauber der Eduard ist?“

Der hatte in der That aufgehört, länger seine gnte Erziehung verleugnen zu wollen; sah er sich doch unausgesetzt von Gustls großen Augen beobachtet, und er hatte nicht Lust, sich einer zweiten Rüge aus dem Munde des Kindes auszusetzen.

Er war am Ende des Schuljahres aus dem Gymnasium geschickt worden; seine Mutter hatte zwar etliche Anstürme versucht und es bei den Lehrern durchsetzen wollen, daß man den Sohn im Gymnasium behalte, allein Eduard hatte den alten Sprachen gegenüber so gründlich den Verstockten gespielt, daß von einer Wiederaufnahme keine Rede sein konnte.

Obgleich er nun im Realgymnasium ein vortrefflicher Schüler wurde und die besten Zeugnisse nach Hause brachte, so hatte er doch durch seinen Austritt aus dem Gymnasium die Liebe seiner Mutter völlig verscherzt. Er war in ihren Augen gesunken, hatte sich für immer um sein Anrecht auf den Umgang mit Hochstehenden gebracht. Sie sagte: „Ich kann mich für ein Kind mit gewöhnlichen Instinkten nicht interessieren; ich sehe mich um die Ernte gebracht, die Du mir schuldig warst!“

Eduard kränkten diese Worte mehr, als er sich’s selbst gestand; er beschloß in seinem Innern: „Ich werd’s der Mutter zeigen, ich werd’s ihr schon noch eines Tages zeigen, daß man sich meiner nicht zu schämen braucht!“

Darauf kam er immer wieder zurück, wenn er sich gegen Herrn Schneider aussprach. Mochte der Bruder ein feiner Herr werden und nur mit Adeligen umgehen, er wollte inzwischen tüchtig werden und reich und angesehen, und hoffentlich war’s dann ihm, nur ihm und nicht dem Bruder, vorbehalten, der Mutter ein sorgenloses Alter zu bereiten!

Das war immer das Endziel seiner Wünsche, und zum großen Aerger des Herrn Schneider war auch Gustls Phantasie fortwährend mit dieser Frau beschäftigt. Es drängte sie immer wieder, eine Gelegenheit zu suchen, Frau von Feldern entweder unter dem Thorweg des Hauses oder auf der Gasse zu begegnen, und eines Tages plagte sie die Neugier so stark, daß sie dem Gespielen ins Ohr sagte: „Du, ich möcht’ gar so gern einmal sehen, wie’s bei Euch ist –“

Eduard nahm sie bei der Hand. „Komm mit!“

Er hatte zwar die feste Ueberzeugung, daß die Sache nicht gut ausfallen würde, aber warum sollte er nicht ebensogut ein Recht haben, sein Kamerädchen mit in die Stube zu bringen, wie Kuno, der jetzt sehr oft Besuch bekam, welchen die Mutter nicht genug auszeichnen konnte.

So trat er, Gustl, der das Herz bis an den Hals schlug, am Händchen nach sich ziehend, in die Eßstube; Frau von Feldern saß wie immer am Nähtisch; Kunochen hatte einen Kameraden bei sich; die beiden Knaben waren dabei, Bleisoldaten aufzustellen und gegeneinander marschieren zu lassen.

Dies geschah, nachdem Kuno über zwei Stunden mit dem Hilfslehrer gearbeitet hatte, den Frau von Feldern für ihren Jüngsten nun zu halten gezwungen war; er war in seiner Klasse sitzen geblieben, da sein Bruder ihm nicht länger die Aufgaben hatte machen können.

Eduard und die Kleine hatten sich draußen in der frischen Herbstluft getummelt und traten nun mit hochroten Wangen und zerzausten Haaren in den friedlichen Kreis, einen vollen Gegensatz bildend zu dem abgearbeiteten Kunochen, das schweigend seine Bleisoldaten hin und her schob.

Frau von Feldern blickte erstaunt auf; es war ihr unbegreiflich, wie Eduard es wagen durfte, die kleine unerzogene Tochter des Herrn Schneider mit hereinzubringen. Sie reichte nichts destoweniger dem kleinen Gast die Hand, freilich mit einiger Vorsicht, indem sie hinzufügte: „Man muß sich immer hübsch waschen und sauber kleiden, bevor man Besuche macht … Kunochen,“ setzte sie hinzu, „warte der Kleinen von dem Zwieback auf –“

Dies geschah. Allein Kunochen stand schon eine ganze Weile mit seinem Teller vor Gustl, sie nahm nichts; der kalte, strenge Blick der Frau von Feldern lähmte das Kind vollständig; es hatte seine sonnenverbrannten, allerdings nicht ganz saubern Händchen unter der Schürze versteckt, atmete hörbar und war dem Weinen nahe. Eduard stand an ihrer Seite mit einem Gesicht, als wartete er nur auf den Augenblick, um seine kleine Freundin gegen die feindlichen Mächte zu verteidigen, die sie beängstigten. Da kam auch schon die Gelegenheit.

„Ist die aber dumm!“ rief Kunochens Freund vom Tisch her.

Im nächsten Augenblick hatte er seine Ohrfeige weg und lag brüllend mit dem Gesicht auf den Bleisoldaten.

„So ist es immer,“ sagte Frau von Feldern, streckte die Hand aus und zog Eduard kräftig am Ohr. „Du brauchst nur zu kommen, so geht der Unfriede los. Wenn Du denn schon ein Gassenjunge bist, so bleibe auch auf der Gasse, wenn man Dich nicht ruft.“

Eduard, der keine Miene verzog, obwohl sich sein Ohr unter den harten Fingern seiner Mutter blaurot gefärbt hatte, Eduard nahm seine kleine Gefährtin bei der Hand und zog sie zur Thür hinaus. Im Hofe riß sich Gustl von ihm los und flog, kaum die Erde mit [67] den Füßchen berührend, ein paarmal wie besessen um die Linde herum; dann kehrte sie atemlos zu dem Knaben zurück.

„Hast Du Deine Mutter lieb?“

„Heut’ nicht,“ gab er zur Antwort.

Aber es lag ihm daran, das Unliebsame dieses Erlebnisses bei der Kleinen in Vergessenheit zu bringen, denn welchen Eindruck es auf sie gemacht, zeigte sich deutlich in der noch größeren Sorgfalt, die sie auf ihr Aeußeres verwendete. Die Köchin sollte ihr alle Tage eine frische Schürze geben; Gustl bürstete und kämmte ihr lockiges Haar zum Erbarmen, und bei jeder Gelegenheit wurde der Kamerad gefragt: „Hab’ ich jetzt so saubere Hände wie Deine Mutter?“

„Ach was,“ sagte er eines Tages, „laß mich in Ruh’, jetzt sollst Du einmal etwas erleben, das Schönste auf der Welt – ein wenig Mut mußt Du freilich haben – hast Du?“

„O ja!“ versicherte Gustl.

Eduard holte eine Leiter aus dem Holzstall und legte sie an die Linde.

„Jetzt mir nach!“ befahl er, stieg hinauf, wartete auf dem untersten Zweig und nahm das Kind, das ihm willig gefolgt war, in Empfang.

„So,“ sagte er, „nur schön sachte von Ast zu Ast mir nach – es ist wie eine Treppe, man kann’s ordentlich merken, daß ich schon hundert Jahr’ da herauf komm’ – da oben ist’s überhaupt am schönsten auf der Welt – paß auf, wie Dir’s gefallen wird, Gustl, man meint auf einmal, man wär’ ein Vogel, und kein Mensch hätt’ einem mehr ’was zu sagen!“

So plaudernd war er vorausgestiegen, hatte der Kleinen immer zur rechten Zeit die Hand gereicht, und sie waren miteinander glücklich und wohlgemut bis in die höchsten Regionen des Baumes geklettert. Da saßen sie dicht beisammen auf einem Ast, fast in gleicher Höhe mit den Dächern rings umher, und tief unter ihnen lag der Hof.

„Gelt, so ’was hast Du noch nicht gesehen, Gustl?“ frohlockte der Knabe und machte Anstalten, sich auf einen höheren Ast zu schwingen; aber da hielten ihn zwei zitternde Hände krampfhaft fest, und die Gustl, die sich freuen sollte, brach in ein bitteres Schluchzen aus. Ihr war so bang, so angst in dieser schwindelnden Höhe, so fern vom Vater, von allen Menschen. In ihrer Verzweiflung umklammerte sie den Hals des Gespielen, drückte ihr Gesichtchen gegen dessen Wangen und benetzte ihn mit ihren Thränen.

„Ach Du dumm’s Tierle,“ schalt Eduard, die Kleine sachte mit seinen Armen umschließend, „ich halt’ Dich ja fest – wo hätt’ ich geglaubt, daß Du so ein dumm’s Tierle wärst, Gustl.“

Sie wurde still, hielt sich aber immer weiter an ihm fest, dann und wann tief aufseufzend, während er sich lächelnd mit ihr auf dem Aste wiegte. Nie in seinem Leben war er von zwei Armen so warm umfangen worden, zum erstenmal fühlte er ein klopfendes Herz nahe dem seinen, er drückte einen leisen Kuß auf die heiße Kinderwange, die sich an ihn schmiegte. „Wie schad’, wie schad’, Gustl, daß nicht irgend etwas Schreckliches kommt und ich Dich verteidigen kann!“

„Du dummer Bub’,“ schluchzte sie, „das ist doch schon schrecklich genug, daß ich da oben sitz’.“

Damit war der Zauber gebrochen. Der dreizehnjährige Knabe nahm die noch nicht zehnjährige, aber kräftige Kleine auf den Rücken und kletterte so mit seiner Bürde langsam und mühselig von Ast zu Ast. Als sie unten waren, erzählte Gustl ihrem Vater: „Weißt Du auch, das war einmal schön, wir sind ganz oben gewesen, in der Linde und haben die ganze Welt gesehen!“

„Ist das wahr?“ fragte Herr Schneider den Jungen.

Er nickte. „Ja, aber da oben hat sie geheult und von der ganzen Aussicht nichts gesehen.“

„Solche Dummheiten verbitt’ ich mir,“ sagte Herr Schneider.

[79] Die Expedition in den Lindenwipfel mit Gustl war für Eduard der Abschluß der Kinderzeit gewesen; wenn er in den Hof kam, hatte er mit Herrn Schneider zu reden, und Gustl hatte der Ehrgeiz erfaßt, es Eduard gleich zu thun und auch eine tüchtige Schülerin zu werden. Er war und blieb ihr Vorbild, aber noch in viel höherem Grade war sie das seine; sie hatte sich nach und nach die Erziehung, die ihm die Mutter gegeben, völlig zu eigen gemacht, und an ihr lernte er schätzen, was er eine Zeit lang verachten zu dürfen geglaubt hatte; ohne daß sie sich’s klar machten, suchten sie einander durch die Sorgfalt, mit der sie sich kleideten, durch die Höflichkeit und Nettigkeit ihres Betragens zu imponieren. Sprach sich Eduard in bittern Ausdrücken über seine Mutter aus, so wies sie ihn zurecht, schalt mit ihrem Vater, der ihm beistimmte, und stellte ihm vor: „Thät’s Dich freuen, wenn ich mich über Dich beklagte?“

„Ja, das ist auch ’was andres, was hast Du für einen Vater!“

[80] Und die Kleine gab ihm zur Antwort: „Der Eduard weiß gar nicht, was er seiner Mutter zu verdanken hat, aber ich weiß es.“

„Du Viperchen,“ murmelte Herr Schneider, den nichts mehr verdroß als ein Lob auf Frau von Feldern aus dem Munde seines Kindes. Eduard aber ging in sich, indem er sich von neuem aufraffte, ein guter Sohn zu sein, wie es die Gustl von ihm verlangte. Es wurde ihm aber nicht leicht; Frau von Feldern lebte nur noch für ihr Kunochen, der ein beängstigend schlankes, elegantes Bürschlein geworden war und sich eines vornehmen Umgangs erfreute; er blieb zwar in jeder Klasse sitzen, aber meist in guter Gesellschaft, ein Haupttrost für Frau von Feldern. Sie sprach mit Vorliebe von dem Hofmeister ihres Sohnes, worüber sich Frau Müller halb zu Tod ärgerte; Malchen verwertete die Sache zu ihren Gunsten, denn sie konnte nur dabei gewinnen, wenn sie überall erzählte, daß man sich in dem Haus, in dem sie verkehrte, einen Hofmeister hielt.

Eines Tages – Frau von Feldern saß bei der Arbeit, Herr von Feldern war eben vom Bureau gekommen und bürstete seinen grauen Hut aus – läutete es auf dem Vorplatz; Eduard, der in dem kleinen Hofstübchen lernte, öffnete; Kunochen befand sich mit dem Hofmeister im Salon.

„Sie wünschen?“ fragte Frau von Feldern den Eintretenden, dessen spießbürgerliches Aeußere sie nicht veranlaßte, sich die Mühe zu nehmen, aufzustehen.

„Ich bin der Herr Konditor Eberle,“ sagte der Mann, indem er sich ohne Umstände auf den nächsten Stuhl niederließ. „Ihr Sohn, Madamm, beehrt mich oft mit seiner Kundschaft, und das freut mich sehr; aber er hat eine schlechte Gewohnheit, und das thut mir sehr leid; nämlich er ist manchmal ein wenig zerstreut und nimmt etwas mit, das er zu bezahlen vergißt; hier die Liste von den Sachen, die mir durch ihn abhanden gekommen sind – zwei Mark vierzig“ – er breitete ein Papier vor Frau von Feldern aus – „es ist noch nicht viel, aber ich halte es für gescheiter, die Sache nicht anlaufen zu lassen – Ihr Sohn –“

„Unmöglich, unmöglich!“ fiel ihm Frau von Feldern in die Rede, „es muß ein Irrtum sein – einer meiner Söhne – nie!“

„Es ist ganz richtig,“ sagte der Mann. „Ich bin nicht so einer, der jemand ’was Falsches anhängt – stellen Sie ihn mir nur einmal gegenüber, dann werden wir ja sehen!“

Frau von Feldern schoß zur Thüre hinaus.

„Eduard! Eduard!“

Als der Sohn erschien, stieß sie ihn an den Schultern vor den Mann hin: „Solltest Du – solltest Du –?“

„Nein, der ist’s nicht,“ sagte der Konditor, „den kenne ich nicht, es ist ein langes, dürres Jüngelchen mit mattblauen Augen, so ein rechter Hering –“

Jetzt schoß Herr von Feldern, ehe sich’s seine Gattin versah, zur Thüre hinaus und brachte den an allen Gliedern zitternden Kuno herein.

„Ja, der ist’s,“ sagte der Mann, „den braucht man nicht erst zu fragen, gelt, junger Herr, wir kennen uns?“

Kunochen fing an zu heulen. „Ich bin nicht schuld, der Berg hat mich dazu verleitet – er hat auch immer alles aufgegessen!“

Frau von Feldern öffnete mit fieberhaft zitternden Händen ihr Portemonnaie und legte dem Mann ein Dreimarkstück hin: er unterschrieb den Zettel, der auf dem Tisch lag, und suchte das kleine Geld zum Herausgeben zusammen. Frau von Feldern machte eine Bewegung mit der Hand, er möge das Geld behalten, aber der Mann schüttelte den Kopf.

„O, bewahr’, ich will nichts geschenkt, ich danke, und die Sache ist auch noch lang kein Drama, daß man wie ein Jammerbild auszuschauen braucht, Madamm. Eine Tracht Prügel, und die Sach’ ist gut und damit fertig – empfehl’ mich Ihrer werten Kundschaft, gehorsamer Diener.“

Als er draußen war, schlug Frau von Feldern mit krampfhaftem Aufschluchzen die Hände vor das Gesicht und ihr Körper bebte unter dem Gewimmer, das sie umsonst zu unterdrücken suchte.

Es war das erste Mal, daß die Ihren sie weinen sahen. Herr von Feldern ließ sich vor Schreck in einen Lehnstuhl fallen, Kunochen umfaßte die Kniee seiner Mutter und versprach unter heißem Schluchzen, er wolle es nie wieder thun. Eduard sah nur die Thränen seiner Mutter, und sie fielen ihm aufs Herz, daß er die Zähne aufeinander beißen mußte; alles war vergessen, ausgelöscht, daß sie hart und grausam gegen ihn war und ihm den Bruder vorzog; in diesem Augenblicke hätte er ihr alles zulieb gethan, was sie von ihm verlangt hätte.

„Ja, Prügel,“ fuhr sie aus ihrem Schmerze auf, „der Mann hat recht, er soll Prügel haben!“

Kunochen, der in seinem ganzen Leben noch keine Schläge bekommen, fing sofort an zu schreien, als stecke er am Spieß, und flüchtete sich auf allen Vieren unter den Tisch.

„Du,“ fuhr Frau von Feldern auf ihren Mann los, „Du bist sein Vater, Du wirst ihn prügeln, Du mußt auch wissen, wozu Du auf der Welt bist – das geht nicht so weiter – alles kann eine Mutter nicht!“ Sie faßte sich plötzlich. „Der Hofmeister darf nicht wissen, was das ist – ich werde ihn gehen heißen – er braucht nicht zu erfahren, was hier vorgeht – hast Du gehört, Feldern, Du prügelst Deinen Sohn!“

Sie ging.

„Ich – mein Gott, ich –“ der arme Herr von Feldern trippelte in höchster Verzweiflung um den Tisch herum, „wie kann ich denn, wie kann ich denn, ich habe ja in meinem Leben noch keine Seele geprügelt!“

„So werd’ ich’s thun,“ sagte Eduard, riß den Bruder mit kräftiger Hand unter dem Tisch hervor und zog den Widerstrebenden mit hinüber in das kleine Schlafzimmer. Dort warf er ihn nicht eben sanft aufs Bett.

„Sei still, Du unmännlicher Kerl, ich hau’ Dich nicht – pfui Teufel, wie ein kleines Kind gleich loszubrüllen, wenn sich’s um ein paar Schläge handelt! Jawohl, daherkommen kannst Du wie ein feiner Herr und thun wie ein Baron, aber nicht einen Funken Mut hast Du, und feig sein, das ist das Aergste auf der ganzen Welt! Da denk’ jetzt nur darüber nach,“ schloß er seine Rede, „und werd’ so bald wie möglich ein Mann.“

Als Frau von Feldern später den Kopf zur Thüre herein steckte, fand sie den einen ihrer Söhne schlafend, den andern lernend, und es schoß ihr etwas wie eine Ahnung von dem wahren Verhältnis der Dinge durch den Kopf. Sollte, konnte sie sich am Ende in der Beurteilung ihrer Kinder geirrt haben, und reichte Kunos Begabung für die Laufbahn, die sie ihm zugedacht hatte, nicht aus?! Nein, nein, schrie es in ihr auf, fort mit diesen Gedanken, mit diesem Zweifel – war sie nicht seine Mutter – und wenn sie ihre Nächte, ihre Gesundheit und ihr Leben dransetzte, sollte es ihr nicht gelingen, aus ihrem Sohne zu machen, was sie sich vorgenommen?!

Diese Anwandlung ging vorbei. Frau von Feldern schloß die Augen und wollte nicht sehen, Kunochens Martyrium nahm seinen Fortgang. Er war drei Jahre älter als die meisten seiner Mitschüler und fügte sich ohne Widerrede in das ewige Lernen, das seine Mutter von ihm verlangte. Er sprach wenig, ob überhaupt etwas in ihm vorging, hatte noch niemand erfahren; aber er war immer freundlich und ein vollendetes Herrchen vom Scheitel bis zur Zehe.

„Der Kerl hat sich in seinem Leben nie mit einem gebalgt,“ sagte sein Bruder von ihm, „ein Flecken an seinem Rock kränkt ihn mehr, als wenn man ihn Feigling heißt.“

Er hatte gut reden; dank der materiellen Nachhilfe seines Freundes Schneider, war er zu einem kräftigen Menschen herangewachsen, der es leicht hatte, sich zu wehren, und dem die ganze von der Mutter ererbte Energie zu Gebote stand. Er diente jetzt sein Freiwilligenjahr ab, und wenn er des Abends nach Hause kam, trank er am elterlichen Tisch seine Tasse Lindenblütenthee und ging dann durch den Hof in das Schneidersche Eßstübchen, wo er seines Gönners „Nimm Dir – nimm Dir“ sich nicht umsonst gesagt sein ließ. Er war voll Dankes gegen den menschenfreundlichen Mann, der ihm in jeder Beziehung ein Retter gewesen. Wie zu einem Vater hatte er mit ihm von seiner Zukunft gesprochen, hatte ihm erzählt, daß seine Mutter von ihm verlangt habe, seine Lehrzeit im Auslande abzumachen, denn sie wolle keinen gemeinen Krämer zum Sohne haben, lieber wolle sie ihr Kleidergeschäft noch weiter ausdehnen, um ihm das nötige Geld dazu schaffen zu können.

Herr Schneider spie Gift und Galle; immer war es der Hochmut dieser Frau, der ihn weiter trieb, als er eigentlich wollte. So geschah’s, daß er, bloß um sie zu ärgern und ihr zu leid zu leben, dem jungen Mann eine Stelle in seinem Geschäft antrug, mit dem sofortigen Gehalt eines Kommis. Und Eduard [82] nahm das Angebot dankbar an; so wie die Sachen zu Haus standen, schien es ihm das Wichtigste, so bald als möglich auf eigenen Füßen zu stehen und Geld verdienen zu können. Der Vater machte ihm einen kränklichen, müden Eindruck, und die Mutter kam ihm zuweilen vor wie eine Person, die im Fieber spricht und handelt. Eduard glaubte nicht an die große Zukunft des Bruders; er sah mit Sorgen den Tag kommen, an dem die rastlos schaffende Frau unter ihrer schwersten Enttäuschung zusammenbrechen würde, und dann war’s an ihm, dem Aeltesten, einzuspringen.

Aber es war keine leichte Aufgabe, die Mutter in die Pläne einzuweihen, die er und sein Gönner miteinander geschmiedet. Er hatte seine Militärdienstzeit beendet und ein gutes Führungszeugnis davongetragen.

Herr Schneider ließ eine Flasche Wein kommen, um das Ereignis zu feiern. Auch sollte sich Eduard Mut trinken zu dem schweren Unternehmen, endlich mit der Mutter zu sprechen.

„Bleib’ fest!“ empfahl ihm Herr Schneider, „und laß Dir nicht zu viel gefallen, sag’s ihr, ein wohlhabender Bürger steht anders da als ein armer adeliger Schlucker – kurz, sei ein Mann und bedenke, daß Deine Mutter ein aufgeregtes Weib ist.“

Eduard nickte und schritt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck zur Thüre. Aber auf der Schwelle stand die Gustl, und als Eduard an ihr vorbeischreiten wollte, hielt sie ihn am Arm fest.

„Vergiß nicht, Eduard, was Du Deiner Mutter zu danken hast. Ich mein’, auch Dein gutes Führungszeugnis verdankst Du eigentlich ihr.“

„Ja,“ sagte er, „das ist wahr.“

Und als er bei den Seinen eintrat, sah er freundlich und versöhnlich aus.

Frau von Feldern arbeitete wie immer, und Herr von Feldern, der sich seit einigen Tagen unwohl fühlte, saß in seinem Lehnstuhl und fror.

Eduard legte sein Führungszeugnis mit dem Prädikat „sehr gut“ vor die Mutter hin, die es las und dann nickte. Auch Herr von Feldern sagte nichts, nachdem er das Zeugnis gelesen, aber die Thränen liefen ihm über die Wangen, und er hatte Mühe und Not, ein Schluchzen zu unterdrücken.

Eduard hatte der Mutter gegenüber Platz genommen; sie saßen eine ganze Weile, ohne ein Wort miteinander zu reden.

Frau von Feldern war jetzt eine Frau von fünfzig Jahren; ihre Gesichtsfarbe spielte ins Gelbliche, aber in ihrem reichen schwarzen Haar zeigte sich noch kein Silberfaden; dagegen hatte ihr früher so selbstbewußter Blick etwas unruhig Flackerndes bekommen und ihr Mund ein nervöses Zucken. Der Sohn hatte viel Aehnlichkeit mit ihr, nur war der Blick seiner Augen gesund und fest und sein Gesicht rund statt länglich; das Dienen hatte seinen Körper gestreckt, ihm den kurzen Hals aus den Schultern gehoben; er war alles in allem ein Mensch, der sich sehen lassen durfte. Aber Frau von Feldern dachte, während ihr Blick ihn streifte: „Wie ein Bauer neben Kunochen –“ und hatte keine Ahnung von den bewundernden, völlig verliebten Blicken, mit denen der Gatte seinen Aeltesten verschlang. Ja, das war einer, das war einer! Ein Eroberer und Schlachtengewinner war nichts gegen einen Eduard, der seiner Mutter stand zu halten wagte!

„Es thut mir leid, liebe Mama,“ begann der junge Mann nach kurzem Getrommel auf dem Nähtisch, „aber ins Ausland kann ich nicht gehen, da ich sobald als möglich selbständig werden und Geld verdienen möchte. Ich würde gerne fremde Länder und Städte sehen, aber unsere Verhältnisse gestatten es nicht, ich kann nicht von Nichts leben und Du darfst Dich nicht tot arbeiten –“

„Was willst Du denn also thun?“ unterbrach sie ihn, den Blick von ihrer Näharbeit aufhebend.

Eduard lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

„Ich werde in das Geschäft des Herrn Schneider eintreten; er giebt mir vom ersten Tag ab den Gehalt –“

„Pfui!“ stieß Frau von Feldern hervor, „also einen kleinen Krämer habe ich auferzogen, all’ meine Mühe und Sorgfalt an einen Menschen gewandt, der sein Leben zwischen Oel und Heringen zubringen wird – jedes Wort reut mich, das ich an Dich verloren!“

„Es wird nichts verloren sein,“ fiel ihr der Sohn in die Rede, „es schadet nichts, wenn es auch wohlerzogene Kaufleute giebt.“

„Ja, im großen Stil, das lasse ich mir gefallen, aber Dich zwischen den schmutzigen Tonnen dieses Kaufmanns Schneider herumhantieren zu sehen – abscheulich! Der intrigante Mensch, er hat mir den Sohn abspenstig gemacht, sein niedriger Einfluß hat Dich verdorben, irre geleitet –!“

„Das sehe ich anders an,“ unterbrach sie Eduard, „ich weiß gar nicht, was aus mir geworden wäre ohne ihn; ich glaube, ich hätte mich zu einem ganz giftigen Unkraut ausgewachsen, wenn er mir den hungrigen Magen nicht gestopft hätte.“

„Eben das ist das Gemeine,“ unterbrach sie ihn, mit fieberhafter Schnelligkeit drauflosnähend, „und wenn Du glaubst, daß ich nachgebe und Dich seinesgleichen werden lasse –“

„O ja, Mama “ Eduard beugte sich ein wenig vor und heftete den Blick auf die dünnen, rastlosen Finger seiner Mutter, „es wird wohl so werden: es ist durchaus notwendig, daß Papa das Bureausitzen läßt und des Abends ein warmes Stück Fleisch –“

„Was unterstehst Du Dich,“ fuhr Frau von Feldern auf, „in meinem Haushalt –“

„In Deinem Hanshalt, liebe Mama, ist alles für den Schein berechnet und nichts für den Magen; Papas ganzes Unwohlsein ist jedenfalls nichts anderes als mangelhafte Ernährung, und Kuno hat gewiß nicht eine Unze Mark in den Knochen –“

„Und Du bist ein brutaler, roher Meusch,“ fiel ihm seine Mutter in die Rede, „das ist’s, was in den nur ans Essen und Trinken denkenden Bürgerhäusern gezüchtet wird – das habe ich den Braten und den Bierkrügen dieses Herrn Schneider zu danken – einen Sohn, der alle wohlmeinenden und edlen Einflüsse seiner Mutter zurückweist, der den Namen seiner Familie in den Staub zieht, den Namen einer Familie –“

„Ich bitte, Mama, wer waren denn Deine Eltern? – Bürgersleute hier und dort, nichts andres, und wenn meine Ahnenväter mich Heringe verkaufen sähen, so würden sie das ganz in Ordnung finden und sich nicht ein einziges Mal im Grab umdrehen!“

Damit hatte er freilich den Vogel abgeschossen, aber auch der Mutter Stolz an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Frau von Feldern wurde nicht gern an ihren Vater erinnert, von dem sie doch das beste, was sie besaß, ihr Talent hatte.

Ihr Gesicht ward aschfahl, ihre Worte wurden so scharf und hart, daß Eduard schließlich seine Vorsätze vergaß und Mutter und Sohn in Feindschaft schieden.

Ein paar Wochen nach dieser Scene starb Herr von Feldern; er hatte eines Abends ganz unverhältnismäßig viel gesprochen; seine Frau konnte sich nicht genug wundern, wo er auf einmal den Mut hernahm, ihr lauter Dinge zu sagen, die sie ärgerten; allein, er sah so gebrechlich und krank aus, daß sie es nicht über sich gewann, ihn schweigen zu heißen. Er aber redete wie einer, der gesonnen ist, allerlei Versäumtes nachzuholen: „Der Eduard wird seinen Weg machen, er wird ihn machen, denk’ an mich; so einer mit so einem Mut, der macht seinen Weg; es war nicht recht von Dir, ihm die Thüre zu weisen und mich nicht zu fragen, aber ich hole ihn nicht. Was tragen die alle Abend schönes Bier da vorbei, das soll er nur trinken, das gönn’ ich ihm, das ist ’was andres als der ewige Schwitzthee, der einem die Kraft aus dem Körper preßt! Ich weiß nicht, warum ich in letzter Zeit so viel an meine Eltern denken muß: wir hatten immer ein gutes Stück Fleisch auf dem Tisch und es thut mir leid, daß ich ihnen nicht mehr Freude gemacht habe; aber ich war nicht zum Fähnrich geboren. Ich habe so viel mehr Geschick in den Händen gehabt als im Kopf, aber ich wollte die Eltern nicht kränken, und so habe ich nie meinen richtigen Beruf gehabt –“

„Lieber Feldern, ich bitte Dich,“ unterbrach ihn die Gattin. „Ich habe mehr als zwanzig Jahre gekocht und war auch nicht zur Köchin geboren –“

„Das weiß Gott, das weiß Gott,“ fiel er ihr in die Rede. „Sammethöschen für die Buben, das war wichtiger als die Suppe; Kunochen hat sogar noch Spitzen dran, ja, Spitzen dran –“ wiederholte er und klopfte in die Hände.

Frau von Feldern sah ihren Gatten nicht ohne Besorgnis an. „Er ist doch längst erwachsen, redest Du im Schlaf?“

„Ich hab’s gestern noch bemerkt,“ behauptete Herr von Feldern, „ich habe überhaupt viel bemerkt, nur geschwiegen, aber ich habe mir immer gesagt, der Teufel hat uns das ‚von‘ eingebrockt; dem Kunochen wird’s mit dem Fähnrich gehen wie mir, aber gottlob, daß der Eduard das lecke Schiff verlassen hat! Du wirst ihn schon noch schätzen lernen – denk’ an mich, Du wirst ihn schätzen lernen; ich werde morgen dem Herrn Schneider meine Visite machen; es liegt mir schon lange auf der Seele, ihm zu danken –“

[83] „Feldern –!“

„Unterbrich mich nicht immer,“ herrschte er die Gattin an.

„Ich weiß ja, daß Du für zehn, für zwanzig gearbeitet hast, aber alles nur fürs ‚von‘. In Zukunft soll es anders werden, ich will in Zukunft Vergnügen haben, und die Kinder sollen auch Vergnügen haben –“

Herr von Feldern sank erschöpft in seinen Lehnstuhl zurück und seine Frau erhob sich rasch und schenkte ihm ein Gläschen von dem Wein ein, den sie sich eigens für den Hofmeister hielt. Feldern nippte an dem Wein mit dem Vergnügen eines Kindes, das recht lange an einer Sache haben möchte; seine Wangen röteten sich ein wenig von dem seltenen Genuß und er schlief ein.

Seine Gattin nähte beim Licht der Lampe und sah zuweilen nach dem kaum hörbar atmenden Mann hin; es war ihr eine merkwürdige Entdeckung, daß der stille, gleichgültig neben ihr hergehende Gemahl doch allerlei in sich verarbeitet, ja, gleichsam ihr Thun und Lassen bekrittelt hatte. Und wieder klopfte die Wahrheit bei ihr an, diesmal durch die Stimme des Gatten, der zum erstenmal seit mehr als zwanzig Jahren das Wort genommen.

Und wieder wollte sie nicht hören und nicht sehen und hüllte sich nur um so fester in das Gewebe ihres Selbstbetrugs ein.

Herr von Feldern starb am andern Tag; leise fiel er vom Leben ab wie ein welkes Blatt; Blutarmut nannte der Arzt die Todesursache.

Eduard hatte wohl mit den Seinen an der Bahre des Vaters gestanden, aber es war zwischen ihm und der Mutter kein versöhnendes Wort gefallen.

Frau von Feldern zog nach dem Tode ihres Mannes in eine andre Wohnung; sie ging aus dem Hause, ohne ein Wort des Abschieds, ja, als sie Herrn Schneider im Flur traf, schritt sie steif und stumm, ohne seines Grußes zu achten, an ihm vorbei. Er aber lachte sich ins Fäustchen. „Den schlimmsten Tort hab’ ich ihr doch angethan – daß ihr Sohn ein Krämer geworden ist, das verwindet sie nie!“

Nein, sie verwand es nicht, obwohl sie alles that, um sich den Sohn aus dem Sinn zu schlagen; sie und Kuno sprachen nie von dem Abtrünnigen; aber des Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, fielen ihr die Worte ihres Mannes ein: „Du wirst ihn schon noch schätzen lernen – denk’ an mich, Du wirst ihn schätzen lernen“ – und wenn ihr die Thränen in die Augen traten, dann sagte sie: das ist Zorn, Empörung! – es war aber etwas andres – das langsame, peinvolle Erkennen: dein Sohn ist ein Mann geworden, wenn auch nicht nach deinem Sinn!

Um so leidenschaftlicher gab sie sich der Hoffnung hin, durch Kunochen ihren Zweck zu erreichen.

Sie hatte ihr Geschäft vergrößert; in einer hintern Stube saßen vier Nähmädchen, für die sie zuschneiderte, denen sie eine gestrenge Herrin war. Aber sie lernten alle etwas bei ihr, und sie entließ nie ein Mädchen, das ihr nicht zum Schluß dankbar gewesen wäre für die Ordnung und die Manieren, die sie im Umgang mit Frau von Feldern sich angeeignet hatte.

Im Salon war sie dann wieder die Dame, die gnädige Frau, präsidierte nach wie vor an ihren Sonntagnachmittagen am Theetisch, hinter dem blank gescheuerten Theekessel, aber die Gesellschaft hatte sich vergrößert. Außer den beiden Freundinnen erschienen junge Kameraden Kunos, Söhne aus den besten Familien, denn man traf am Theetisch der Frau von Feldern immer einige von Malchen herbeigezogene junge Schauspielerinnen. Es ging lebhaft zu; Frau von Feldern sparte nicht mit feinem Backwerk; die Herren labten sich am teuersten Bier der Stadt, nannten die Dame des Hauses gnädige Frau, und diese schwelgte in dem Hochgenuß, endlich wieder die Sprache jener Kreise zu hören, in die sie von Rechts wegen gehörte!

Frau von Feldern hatte schon lange aufgehört, sich irgend etwas klar zu machen oder eine Sache so anzusehen, wie sie war; sie fragte sich nicht – wissen die Eltern dieser jungen Leute von ihren Besuchen bei mir und sind sie damit einverstanden?

Sie log sich vor: keinen Menschen geht es etwas an, und niemand braucht es ja in jenen Kreisen zu erfahren, daß ich da hinten eine Nähstube habe; sobald mein Sohn Offizier ist, steht mir an seinem Arm die Welt offen!

Längst schon hatte sie in ihrem Innern beschlossen, Frau Müller auf irgend eine Weise ihrem Theetisch fern zu halten, denn diese taktlose gewöhnliche Frau verstand es, immer wieder den mühsam aufrecht erhaltenen Nimbus der Familie über den Haufen zu werfen. Entweder sie sprach von einer Taille, die ihr Frau von Feldern gemacht und die ihr nicht recht sitze, oder sie war im Schneiderschen Laden gewesen und hatte Eduard gesehen. Obwohl Malchen sie fortwährend unter dem Tisch anstieß, ließ sie sich ein Langes und Breites darüber aus, wie nett manierlich Eduard hinter dem Ladentisch stehe, immer mit der gleichen Artigkeit die Kunden bedienend, ob sie jung oder alt seien, und wie er geradezu „das Geriß“ habe und alle Käufer sich zu ihm drängten, als hätten die Dinge, die er in der Hand gehabt, einen besonderen Wert und Geschmack.

„Ich hab’s ja immer gesagt,“ schloß sie ihren Bericht, „aus dem wird ’was, und dabei sieht er aus wie ein Borsdorferapfel und nicht wie ein gewisser Junker Spärling –“

„Spärlich,“ flüsterte ihr Malchen zu, „aus Shakespeare –“

„Geh’n Sie mir weg mit dem,“ fuhr Frau Müller sie an, „wer kann denn dem seinen Namen schreiben – so einen mag ich von vornherein nicht –“

„Aber Frau Müller,“ entsetzte sich Frau von Feldern, während die Jugend, die immer ihren Spaß hatte, wenn die Müller redete, vor Lachen fast erstickte, „ich bitte Sie, wie können Sie nur dergleichen ungebildet thun –“

„Dergleichen? ich thu’ nie dergleichen,“ protestierte die Witwe, „so wie ich red’, so bin ich; wem’s nicht gefällt, der soll einen Stock dazu stecken –“

Frau Müllers Aeußerungen über Eduard waren in der That nicht übertrieben. Er machte Aufsehen im Lädchen des Herrn Schneider, indem er sich durch seine Lebensart aufs vorteilhafteste vor den übrigen jungen Leuten auszeichnete; sie grollten ihm darob alle, waren aber im stillen aufs eifrigste bemüht, ihm sein Benehmen, seinen Anstand abzulauern. Es regnete plötzlich die tiefsten Diener im Lädchen des Herrn Schneider; es gab keine unfreundlichen Antworten mehr, keine verstimmten Gesichter. Herr Schneider lief herum, rieb sich die Hände und hatte ein Heidenvergnügen, alle Augenblicke schreien zu dürfen: „Von Feldern, zwei Heringe – von Feldern, ein Aufwaschlumpen – Petroleum, von Feldern!“

Das war ein Genuß, dieses „von“ zu meistern, zu demütigen, sich von diesem „von“ bedienen zu lassen! Herr Schneider bildete sich ein, den ganzen Adel in diesem „von“ unter den Händen zu haben, und ging nicht menschenfreundlich mit ihm um.

Aber Eduard hatte es dabei nicht schlecht; er bewohnte die beste der für die jungen Leute bestimmten Mansarden und erhielt schon nach einem Jahr den höchsten Gehalt, den Herr Schneider auszuzahlen pflegte.

Bald war auch mit dem früher so finstern und unordentlichen Lädchen eine Veränderung vorgegangen; Herr Schneider sperrte sich zwar gegen jede Neuerung, erklärte, er wolle ein einfacher Bürger bleiben und nicht in das einfältige Nobelthun verfallen; aber es half nichts. Es war nachgerade eine Freude, in den wohl aufgeräumten kleinen Laden zu treten. Nicht anders war’s im Eßstübchen; hier waltete ein munteres, sonniges Wesen von sechzehn Jahren, und außer dem Hausherrn erlaubte sich niemand mehr, mit struppigen Haaren oder ungewaschenen Händen an den Tisch zu kommen; der war hübsch gedeckt, mit einem weißen Tischtuch, das jeder aufs äußerste respektierte – wieder mit Ausnahme des Hausherrn, der sich unablässig gegen den neuen Geist wehrte, der in seinen vier Wänden eingezogen war. Wenn er in die Küche rannte und die Köchin anfuhr: „Was ist das wieder für eine Mode? zwei Teller! Bin ich ein Baron? Ich bin der Kaufmann Schneider, bei dem alles auf einem Teller gegessen wird –“ so gab ihm die Köchin zur Antwort: „Was ist da zu machen, die Gustl will’s –“

„So, die Gustl, na, der will ich’s sagen,“ ärgerte sich der Vater, fuhr aber statt der Tochter die jungen Leute an, welche zur Sonntagsmahlzeit in einem Staat erschienen, wie das bisher im Schneiderschen Hause nicht üblich gewesen war.

„Wie schaut Ihr aus, seid Ihr verrückt geworden? Will ich feine Herren an meinem Tisch haben? Was helfen Euch die Krawatten? Ihr seid Ladenschlingel, nichts als gemeine Ladenschlingel, ich will, daß man sich das in Zukunft merkt!“

Nun ja, hieß es, aber wenn die Gustl so nett sei, wolle man auch nicht ausschauen wie ein Handwerksbursche, denn es sei nicht notwendig, daß einen der Feldern immer in den Schatten stelle; an den Feldern möge sich der Herr Schneider halten, wenn ihm die Eleganz im Hause nicht recht sei, denn der Feldern allein habe den Luxus eingeführt, sonst keiner.

[92] Ueberkam Herrn Schneider der Aerger über diese Neuerungen, dann stellte er den Eduard heftig zur Rede, ob er vielleicht glaube, daß es vernünftig sei, wenn er all’ sein Geld für Staat ausgebe; das dürfe gerade er sich zuletzt erlauben, sondern er habe, weil er ihn vor allen andern vorgezogen, nun auch mit dem guten Beispiel voran zu gehen und nicht wie ein Geck daher zu kommen.

Eduard, der Herrn Schneider sehr wohl kannte, gab ihm gelassen zur Antwort, mehr als einen Sonntagsrock und einen Werktagskittel besitze er nicht, aber er habe freilich zu Hause gelernt, auf seine Sachen zu achten.

„Soll das vielleicht eine Anspielung sein?“ fuhr Herr Schneider auf, „Du bist ein impertinenter Mensch – ist er’s nicht, Gustl?“ wandte er sich an seine Tochter, die Wäsche flickend am Fenster der Eßstube saß und nun herzlich auflachte.

„Und wenn’s eine Anspielung wäre, wie recht hätte er, Vaterle, denn Du hast sechs Röcke, und sie sind ewig nicht im Stande.“

„Du hältst ihm immer die Stange,“ polterte der Vater.

„Ich zanke ihn auch, nicht wahr, Eduard? Ja, ich bin recht unzufrieden mit Dir,“ nickte sie dem jungen Mann zu, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, „Du hast Deiner Mutter so viel zu verdanken und gehst nicht zu ihr und bittest sie, wieder gut mit Dir zu sein. Das kränkt mich alle Tage, Eduard, denn ich muß mir sagen, daß Du ein harter Mensch bist.“

Er nickte. „Das werd’ ich wohl sein, ich kann nichts dafür, aber ich sehne mich wirklich nicht in die alten Verhältnisse zurück; ich bin lange genug der Verachtete gewesen und würde es wieder sein, käme ich nach Hause. Also bleibe ich doch lieber weg.“

Gustl schüttelte den Kopf.

„Nur wenigstens Friede solltest Du mit Deiner Mutter machen, versuche es; siehst Du, es nagt an mir; ich muß so oft an Deine Mutter denken; wenn ich ihr Kind wäre, ich würde alles thun, um sie zufriedenzustellen: ich kann mir nicht helfen, ich hab’ einen so großen Respekt vor ihr, ich wollt’, ich könnt’ ihr etwas zulieb thun!“

Es entstand eine Pause. Eduards Augen ruhten groß und ernst auf Gustls rundem Kindergesicht mit dem kleinen Stumpfnäschen und dem krausen Haar. Immer, wenn er glaubte, im Recht zu sein, wenn er fest davon überzeugt war, gerecht zu handeln, brachte ihn diese Kleine mit ein paar Worten in Verwirrung.

„Ich glaube, das ist der Unterschied,“ sagte er mit einem Male, „bei Dir kommen alle Gedanken aus dem Herzen und bei mir aus dem Kopf.“

„Drum passen wir auch so gut zusammen,“ meinte sie unbefangen, aber schon im nächsten Augenblick erschrak sie über das Gesagte, und sie saßen beide dunkelrot, mit klopfendem Herzen einander gegenüber. Es klang etwas gepreßt, als Eduard, sich erhebend, bemerkte: „Ich will heute noch zu meiner Mutter gehen.“

Er war nicht eben freundlich aufgenommen worden; Frau von Feldern lebte gerade wieder in der Angst, ob Kunochen aus seiner Klasse versetzt werde oder abermals sitzen bleiben müsse. Dieser Umstand machte sie Eduard gegenüber befangen, und da er es nicht merken sollte, prahlte sie erst recht drauf los, und Eduard, der genau wußte, wie’s um den Bruder stand, mußte ihn, wie früher auch, als Wunderkind preisen hören. Das wurde ihm zu viel, und es fuhr ihm heraus: „Wenn er nur nicht vierzig wird, bis er aus der Schule kommt“ – Der Stachel saß.

„Du bleibst Dir doch immer gleich,“ sagte Frau von Feldern und forderte ihren Aeltesten nicht zum Wiederkommen auf.

Früher hätte er das alles haarklein der Gustl erzählt; sie hätte ihn ausgescholten wegen seiner Bemerkung und gewiß alle Tage gefragt: wann gehst Du wieder zu Deiner Mutter? – Jetzt war alles wie abgeschnitten; als hätten sie einander gegenseitig [94] tief beleidigt, so rasch gingen sie aneinander vorbei, so flüchtig, fast unfreundlich kam der Morgen- und Abendgruß von ihren Lippen. Mit dem jungen Mann aber ging’s Tag und Nacht um: was bist du – was hast du – nichts – nichts! Wenn er nun doch in die Fremde ginge und sein Glück versuchte – aber wie lang’, wie lang’ würde es dauern, bis er als gemachter Mann zurückkehrte! – Er wurde zerstreut, gab gereizte Antworten und ließ den Kopf hängen.

„Was hat der Kerl?“ wandte sich Herr Schneider an Gustl, „habt Ihr Euch gezankt?“

Sie machte sich in ihrem Nähkorb zu schaffen. „Nein.“

„Aber es ist doch etwas mit ihm; steckt vielleicht die alte Feldern wieder dahinter – weißt Du nicht?“

„Nein.“

„Na, dann soll er mir Red’ stehen – verdrießliche Gesichter halt’ ich nicht aus –“

Gustl sah bald darauf von ihrem Fensterplatz aus die Beiden im Hof auf und ab gehen. Herr Schneider zappelte und schrie: „Was ist denn, was hast Du denn? Zum Teufel, Du bist ja unausstehlich –“ gab dem jungen Mann alle Augenblicke einen Rippenstoß oder schlug ihn auf die Schulter.

Gustl konnte nur ihren Vater verstehen, Eduard sprach leise, so unten vor wie einer, der nicht recht mit der Rede heraus will. Mit einem Male rannte Herr Schneider, als ob es brenne, über den Hof, direkt auf Gustls Fenster zu, in das er fast kopfüber hinein stürzte. „Du, Gustl, er will fort, der Teufelsbraten will fort und sagt nicht warum!“

Das junge Mädchen erschrak, wurde blutrot und brach in Thränen aus.

„Jetzt quälst Du mich auch noch!“ jammerte Herr Schneider. Mit einem Male schlug er sich auf die Knie. „Ihr Herrgottsakramenter – so steht’s!“

Gustl lief aus dem Eßstübchen fort und Herr Schneider ging, beide Hände in den Taschen, auf Eduard zu, der wie ein armer Sünder dastand.

„Ja, ja, kaum aus den Kinderschuhen, verliebt sich das Volk; noch nicht trocken hinter den Ohren, denkt man schon ans Heiraten. Lieber Eduard, ich kenn’ Dich, ich weiß, was ich von Dir zu erwarten hab’ – so weit wär’s schon recht – aber nun hat’s einen Haken: in mein Haus kommt kein „von“; ich bin ein freisinniger Mann, bei mir soll’s gut bürgerlich zugehen bis in meine fernsten Generationen. Und darum ist’s aus – der Eduard Feldern wär mir recht – den Eduard von Feldern kann ich nicht brauchen!“

„Aber, Herr Schneider –“ der junge Mann brachte vor Erregung fast nichts heraus, „mir liegt ja nicht das geringste an diesem ,von‘ – ich hab’ genug darunter gelitten – ich werde ihm doch nicht auch noch mein Lebensglück opfern – ich will nichts als ein bürgerlicher Kaufmann sein – wie Sie, Herr Schneider.“

Der nahm ihn unter den Arm und zog ihn auf die Bank unter der Linde. „Das ist ein stolzer Tag für mich, Eduard, ein stolzer Tag – das hätt’ ich mir nicht träumen lassen, daß ich’s dahin bring’, dem Adel einen braven Mann wegzukapern und einen guten Bürgerlichen daraus zu machen; ja, Eduard Feldern, jetzt gehörst Du zu uns! Heut’ abend, Junge, wird eine Flasche Champagner auf die Feldernsche Nachkommenschaft getrunken.“

„Aber die Gustl,“ wagte Eduard zu erinnern.

„Mit der redest Du nachher, die wird uns gewiß den Spaß nicht verderben.“

Als Eduard zugleich mit dem jungen Mädchen ins Eßstübchen trat, war er wie berauscht von der unerwarteten Wendung der Dinge. Herr Schneider ersparte ihm jede weitere Auseinandersetzung, indem er zur Thür hineinrief: „Du, Gustl, mach’ nur nicht lang’, er hat uns sein ‚von‘ geopfert – er hängt den ‚von-Herrn‘ an den Nagel – dafür laß ich ihm aber auch jetzt für den Abend ein Kalb schlachten!“ Er sah die Beiden an, die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er schlug schnell die Thür zu.

Gustl war blaß; sie warf einen kurzen Blick auf den sie erwartungsvoll und flehend ansehenden Eduard und schüttelte den Kopf. „So geht das nicht,“ sprach sie mit zitternder Stimme, „das darfst Du Deiner Mutter nicht anthun – sie muß erst damit einverstanden sein!“

„Das wird sie nie,“ sagte Eduard. Er hatte sich gefaßt.

„Gustl, ich werde es niemals Deinem Vater und meiner Mutter zugleich recht machen können, das liegt außer aller Möglichkeit; ich will gleich hingehen und ihr meinen Entschluß mitteilen, aber ich weiß ihre Antwort im voraus: sie wird nie nachgeben, bis dieser Name uns alle zu Grunde gerichtet hat.“

Er wollte gehen, Gustl eilte ihm nach. „Sei so gut gegen sie, als Du kannst – was Du dann auch für eine Nachricht bringst –“

Es wurde nicht ausgesprochen, sie lagen sich plötzlich in den Armen, und ihre Lippen fanden sich für einen kurzen Augenblick ...

Frau von Feldern hatte nicht nachgegeben, sondern ihrem ältesten Sohn erklärt, er möge heiraten, wen er wolle, sie, die Mutter, aber völlig aus dem Spiele lassen, denn eine Familie Feldern ohne Adel gehe sie nichts an.

Kurze Zeit darauf ging aus dem Schneiderschen Hause ein blutjunges Paar zur Kirche; unter der Linde fand das Hochzeitsmahl statt, und sie breitete segnend ihre frisch belaubten Zweige über dem heiteren Treiben aus.

Eines Tages – die junge Frau deckte den Tisch und der Herr Gemahl ließ dabei das Necken nicht bleiben, so daß die Sache nicht recht vorwärts ging – fuhr plötzlich der Herr Schneider in das junge Glück hinein, mit einer Zeitung in der Hand und einem Gesichtsausdruck, dem eine gewisse Schadenfreude nicht abzusprechen war. „Kinder,“ sagte er, „da steht ’was – schaut einmal her!“

Eduard bückte sich über das Blatt und las von einem Auftritt zwischen jungen Civilisten und einigen Fähnrichs im Restaurant; Fähnrich K. v. F. hatte bei der Gelegenheit eine Ohrfeige bekommen und war seines Säbels beraubt worden.

„Das ist natürlich Kuno,“ sagte Eduard. „Die arme Mutter!“

„Du mußt gleich hingehen,“ meinte die junge Frau und holte ihm den Hut.

Der junge Mann kam sehr bald wieder zurück; ein Nähmädchen hatte ihn abgewiesen, Frau von Feldern sei unwohl und wolle keinen Menschen sehen.

„Du mußt wieder hingehen,“ sagte Gustl, „ich laß nicht ab, bis es gut zwischen Euch ist.“

„Viperchen,“ brummte Herr Schneider, „mir so zu leid zu leben.“

„Geh’, bild’ Dir doch nicht ein, kein Herz zu haben,“ schalt ihn die Tochter.

Es war keine geringe Ueberraschung für Eduard, eines Tages seinen Bruder Kuno bei sich eintreten zu sehen; er hatte noch immer das zarte blasse regelmäßige Gesicht, das er als Kind gehabt, und sah in dem feinen Civilanzug höchst zierlich und elegant aus.

Kuno war sehr liebenswürdig und benahm sich, als befinde er sich nicht zum ersten-, sondern zum hundertstenmal in der Häuslichkeit seines Bruders. Er sagte, er sei recht froh, vom Militär weg zu sein. Nun, erzählte er weiter, stehe er auf dem Punkte, nach Berlin zu fahren; seiner Mama sei es nach unsäglichen Mühen und Schreibereien gelungen, ihm einen wundervollen Posten ausfindig zu machen, auf dem er nur zu repräsentieren hätte.

„Mama weiß nämlich nichts von meinem Besuch bei Dir,“ wandte er sich an den Bruder, „aber ich wollte doch die Stadt nicht verlassen, ohne Dich noch einmal gesehen zu haben. Gewiß hast Du die Güte, mir einen kleinen Posten von vierhundert Mark auszugleichen, ich möchte keine Schulden zurücklassen und schicke Dir das Geld, sobald ich meinen ersten Gehalt bezogen habe; er ist sehr groß und ermöglicht mir, Mama endlich einen angenehmen Lebensabend zu bereiten.“

Eduard zahlte dem Bruder das verlangte Geld aus und Gustl legte es ihm ans Herz, doch die Mutter ein wenig zu ihres Mannes Gunsten umzustimmen. Kuno versprach zu thun, was er könne, und fragte neckisch unter der Thür: „Wirst Du jetzt immer satt, Educhen?“

In Eduards Innern aber zehrte von dem Tage an ein Kummer; er hatte sich schon als Retter gesehen, als Helfer in der Not, nachdem Kuno es zu nichts gebracht und die Mutter mit ins Elend gezogen hatte. Nun war er doch neben draus, und Kuno war es, der ihr den Lebensabend verschönen sollte. –

Ein Kleines zappelte schon in der Wiege, und Herr Schneider war der lächerlichste Großvater, den es auf der Welt gab; etwas so Außergewöhnliches wie dieses kleine Geschöpf lebte nach seiner Meinung nicht mehr. Er saß vor der Wiege, und wenn es mit den Wimpern zuckte oder das Händchen bewegte, war ihm das zum Weinen rührend; schrie’s, so gebärdete er sich, als vermöge in der Welt kein anderes Kind zu schreien wie sein Enkel.

Hielt Eduard sein Kind im Arm, so konnte er nicht anders, [95] er mußte seiner Mutter gedenken und sich sagen: so hielt sie mich einmal auch und sah mich liebevoll an und setzte Hoffnungen auf das kleine Leben in ihrem Arm.

Nein, es war keine leichte Mühe, ein Kind aufzuziehen und alles das hatte seine Mutter gethan und noch dabei für ihren gemeinsamen Unterhalt gesorgt und Tag und Nacht sich keine Ruhe gegönnt – und nun war’s diesem Kuno vorbehalten, ihr alles allein vergelten zu dürfen!

Wenn er so sann und dabei sein Kind anstarrte, kam wohl die Gustl, fuhr ihm mit der Hand über die Stirne und lachte ihn mit ihren treuen blauen Augen an.

„Sei nur ruhig, gräm’ Dich nicht, wir kommen auch noch an die Reihe; sieh, wenn ich alles so gewiß wüßt’, als daß sie eines Tages da herein kommt und ich’s ihr endlich, endlich zeigen kann, was ich durch Dich von ihr gelernt – manchmal ist mir’s, als könnt’ ich’s kaum erwarten!“

„Närrle, Du,“ lächelte der Gatte.

Sie umfaßte ihn. „Geh’ hin, sag’s ihr, daß wir ein Kind haben –“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, dring’ nicht in mich – es hat alles seine Grenzen – wenn sie mir etwas Hartes sagte, jetzt könnt’ ich es nimmer verwinden.“

Kurz nach diesem Gespräch erhielt Eduard einen Brief von seinem Bruder; es war fast ein Jahr verflossen seit dessen Abreise, und gar oft war die Rede von ihm gewesen im Schneiderschen Hause, ob er wirklich den großen Gehalt bekomme und imstande sei, die Mutter regelmäßig zu unterstützen.

Kunos Schreiben lautete folgendermaßen:

 „Lieber Edu!

Es ist mir im Anfang recht gut gegangen, und ich konnte Mama monatlich fünfzig Mark schicken, damit sie nicht mehr so viel arbeiten muß. Nun aber werde ich ihr im nächsten Monat nichts schicken können, denn ich habe meine Stellung verlassen und muß mir eine andere suchen; Mama soll es aber nicht wissen, denn sie fängt an, alles so schwer zu nehmen, und darum bist Du gewiß so gut, ihr die fünfzig Mark in meinem Namen vorzustrecken, und zwar so, daß sie ihr als von mir kommend ausbezahlt werden. Du sollst alles wieder bekommen, sobald ich eine neue Stelle habe. In meiner letzten hatte ich sehr viel mit einem händelsüchtigen Menschen zu thun, der alles besser wissen wollte; auch erlaubte sich der Direktor einen sehr ungezogenen Ton gegen mich anzuschlagen; ich verbat mir das, und wir schieden. Wie geht es Dir? ich glaube, Du hast einen Sohn; das freut mich sehr. Ich bin wirklich dafür, daß wir in gutem Einvernehmen bleiben, denn ich kann Dich versichern, daß ich gar nicht hochmütig bin, und ich hoffe, daß Mama auch endlich eines Tages einsieht, daß Du auch ein ganz tüchtiger Mensch bist. Freilich, daß Du unser ‚von‘ aufgegeben hast, war ein wenig stark von Dir. Vielleicht bist Du so gut und schickst mir umgehend zweihundert Mark, damit ich nicht in Verlegenheit komme.

Dein aufrichtiger Bruder Kuno.“ 

Jetzt, jetzt war er da, jetzt war der Augenblick gekommen, und Eduard kam an die Reihe! Mit welchem Eifer, mit welcher Ueberlegung setzte er die Sache ins Werk, damit die arme Mutter ja nicht merke, daß die Unterstützung, die er sogleich wesentlich erhöhte, wo anders herkomme als von ihrem Kuno!

Daß sie darein keinen Zweifel setzte, erfuhr das junge Paar gelegentlich durch Frau Müller, die nie verfehlte, von Zeit zu Zeit vorzusprechen, um zu sehen, wie’s um den jungen Haushalt stand.

„’s ist der Wunderfitz, der mich hertreibt,“ bekannte sie unverhohlen, „ich muß halt immer wieder schauen, ob’s denn wahrhaftig in Gott wahr ist, daß gerad’ die Frau zwei so ausgezeichnete Söhn’ hat; ich kann’s halt nicht begreifen. – Ganz aus Rand und Band bringt mich ihre Prahlerei mit dem Kunochen; wer hätte das gedacht, schickt ihr der Grünschnabel monatlich hundert und fünfzig Mark, der Malefiz-Bub’! Laß ich da einmal ganz harmlos mein Butterbrot aufs Tischtuch fallen – nennt mich der Bengel ‚Schweinchen‘ – ich bitt’ Sie, in meinem Alter! – und daß ich’s nur gerad’ sag’, eine wahre Freud’ war mir’s, wie er als Fähnrich seine Schläg’ kriegt hat: da hast’s – hab’ ich denkt. – Aber so bin ich nicht, Gott bewahr’, die Sach’ war halbpart – sie hat mir leid gethan in der Seel’, und ich wär alle Tag’ hin und hätt’ ihr Trost zugesprochen, aber sie war krank – stellt sich krank bis zu dem Augenblick, wie der Kerl das unverdiente Glück hat und kriegt die schön’ Stellung. Jetzt sitzt sie wieder am Theetisch, thut wie eine Privatiere und als ob sie nur mein’ Sach’ mir noch aus Gnad’ und Barmherzigkeit machen thät. Die Frau ist nicht unterzukriegen, einfach nicht unterzukriegen! Ach Gott, Kinder, ich möch’ Euch ja gern ’s Wort bei ihr reden, aber so oft ich von Euch anfang’, stößt mir das Malchen unterm Tisch ’s Schienbein wund, und dann, Gott soll mich bewahren, die Feldern will nimmer für mich arbeiten, wenn ich nicht aufhör’, ihr von Leuten zu reden, von denen sie nichts hören mag. Jede andre aber verpfuscht mir die Taille, und die kann ich Euch nicht opfern – nein, das werdet Ihr einsehen! Jesses, Kinder, hat man sich aber heut’ wieder bei Euch unterhalten, ’s geht eben nix über so ein Schwätzedle,“ schloß sie ihre Rede und rauschte befriedigt von dannen.

In der That, Frau von Feldern gönnte sich ein wenig Ruhe; sie hatte nur noch ein Nähmädchen und ihre emsigen Hände zogen nicht mehr so blitzschnell die Nadel aus und ein wie vordem. Das Alter war gekommen, und die Augen, die so viel geleistet, versagten den Dienst. Aber sie klagte nie, saß nach wie vor aufrecht und gut gekleidet hinter ihrem Theekessel, maßregelte Frau Müller und protegierte Malchen, die ihr allein von all’ den früheren Gästen treu geblieben waren, und wenn man sie hörte, so ging ihr alles nach Wunsch und sie war eine beneidenswerte Mutter wie keine zweite auf Erden.

Die heimliche Angst, es könne ihrem Kunochen eines Tages wieder schlecht gehen, verließ sie freilich keinen Augenblick; sie legte deshalb, was sie zu erübrigen vermochte, als Notpfennig zurück, um ja in der Lage zu sein, dem Liebling beispringen zu können, wenn Not an Mann gehe. Zuweilen auch wunderte sie sich in ihrer Einsamkeit, daß Eduard so gar keinen Versuch mehr machte, ihre Verzeihung zu erringen; da sie des Abends nicht mehr arbeiten konnte, kamen ihr allerlei Gedanken, die beinahe etwas Versöhnliches hatten, besonders seit sie wußte, daß sie Großmutter geworden war. Aber zuerst natürlich mußte der Sohn zu ihren Füßen liegen!

Der aber hatte seit der Täuschung, die er an seiner Mutter ausübte, ein viel zu schlechtes Gewissen, als daß er sich unter ihre Augen getraut hätte. Auch war er nicht so ganz sicher, ob er wohl imstande sein möchte, es ruhig über sich ergehen zu lassen, wenn die Mutter ihm nach wie vor Kunos Loblied singen würde. Er hatte nun schon ganz artige Summen an den Bruder gesandt und nicht Lust, ihn noch länger als Vorbild hingestellt zu bekommen. Er fand es überhaupt an der Zeit, die Mutter endlich über die Lage des Bruders aufzuklären, allein Gustl hielt ihn immer wieder davon zurück.

„Thu’ Du’s nicht,“ bat sie, „aus Deinem Munde wär’s ihr ein doppelter Schlag; Dein Bruder wird’s gewiß nicht immer verbergen können, wie’s um ihn steht; er hat so wie so eine ganze Weile nichts von sich hören lassen, da denk’ ich immer, er kommt gewiß eines Tages völlig abgerissen heim, und dann wird ja alles einmal an den Tag kommen.“

Die Sache ging aber anders; Kuno hatte immer regelmäßig an seine Mutter geschrieben, kurze Briefe, in denen er sich nach Mamas Befinden erkundigte und sie immer wieder bat, doch nicht so viel Aufhebens von den monatlichen Geldsendungen zu machen, ihre überschwengliche Dankbarkeit beschäme ihn gar zu sehr. Diese gedankenarmen Brieflein waren die einzige Lebensfreude der einsamen Frau, gaben ihr den Trost, dessen sie so sehr bedurfte, daß sie nicht umsonst gelebt, gekämpft und gerungen.

Nun aber war schon eine geraume Zeit verstrichen und Frau von Feldern hatte nichts von ihrem Sohne gehört. Eine entsetzliche Unruhe bemächtigte sich ihrer, die unglückseligsten Vorstellungen plagten sie, so daß sie jedesmal zusammenfuhr, so oft es auf dem Vorplatz läutete. Zwanzigmal im Tag lief sie zu ihrer Schatulle, um die Summe nachzuzählen, die sie erübrigt hatte. Dann wieder schalt sie mit sich selber, was ihr denn einfalle, was sie denn glaube – trafen nicht die hundertundfünfzig Mark regelmäßig am Ersten eines jeden Monats vom Bankier bei ihr ein, im Auftrage des Herrn Kuno von Feldern! „Ich bin doch eine recht nervöse alte Frau geworden,“ sagte sie zu sich selber, „Kunochen wäre außer sich, wenn er wüßte, was ich mir für Sorgen mache.“

Es war Sonntag; Frau von Feldern warf noch einen Blick auf den sorglich hergerichteten Theetisch, fuhr mit dem Staubtuch [98] über den Kessel, der ohnedies wie ein Spiegel glänzte, und wollte nun an die sonntägliche Toilette gehen, als es auf dem Vorplatz läutete. Es war das Dienstmädchen des oberen Stockwerkes; sie solle vielmals um Entschuldigung bitten, aber der Postbote sei in der Frühe dagewesen, er habe unten geläutet, und da ihm nicht aufgemacht worden sei, habe er sein Paket oben abgegeben; sie, das Dienstmädchen, sei in der Kirche gewesen, und die gnädige Frau habe eben erst wieder an das Paket gedacht, das sie auf dem Vorplatz habe liegen lassen.

Es war ein Paket aus Berlin, das Frau von Feldern freudig erregt in die Stube trug. Gerade in dieser Nacht war sie wieder von den unglücklichsten Vorstellungen geplagt gewesen und erst gegen Morgen in einen unerquicklichen Schlummer verfallen; da mußte der Postbote geläutet haben, und sie hatte es nicht gehört.

Mit zitternden Händen riß sie das Paket auf; ein Rahmen kam zum Vorschein mit einem Bild – mit dem Bild ihres Lieblings. – Aber fast hätte sie aufgeschrieen, so ähnlich war er dem Vater geworden, schon durch den grauen Anzug, den er trug, und den Backenbart, den sie zum erstenmal an ihm sah; sein früher so interessantes schmales Gesichtchen war allerdings rund geworden, ja beinahe feist, und auch ein Etwas in der Haltung – kurz, Kunochen sah nicht mehr so aristokratisch aus wie früher, und Frau von Feldern nahm sich vor, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Jetzt aber zum Brief – wie freute sie sich über dessen Länge, mit welchem Behagen setzte sie sich zurecht, das Bild vor sich auf den Tisch stellend! – noch einmal hing ihr Auge an den teuren Zügen, dann beugte sie sich über das Schreiben und las:

 „Geliebte Mutter!

Ich habe lange nichts von mir hören lassen, aber wie Du auf dem Bilde siehst, bin ich nun fein heraus, und so will ich denn endlich Mut fassen und mit der Wahrheit anrücken. Ich habe schrecklich ausgestanden, liebe Mama, und wahrhaft jammervolle Zeiten durchgemacht. Ich glaube, ich bin nicht so begabt, wie Du immer meintest, und welch ein Glück wär’ es gewesen, wenn man das früher herausgekriegt hätte und ich mich nicht so fürchterlich mit Lernen hätte schinden müssen, denn ich war weder zum Studieren, noch zum Soldaten geboren. Hier in Berlin habe ich das sehr bald eingesehen, aber ich wollte Dich nicht kränken, und so habe ich Dir auch alle die Schicksalsschläge verheimlicht, die mich hier nacheinander trafen, denn ich bin gleich im ersten Jahr stellenlos geworden, und, was ich auch unternahm, nichts wollte mir glücken.

Auch war ich keiner Anstrengung gewachsen, und als ich mich einmal sehr elend fühlte und zu einem Arzt ging, sagte dieser mir, ich sei zwar gesund, aber außerordentlich schlecht genährt und habe viel nachzuholen. Dies, liebe Mama, ist gewiß auch der Hauptgrund, warum ich ein so haltloser Mensch ohne Ausdauer geworden bin, und bitte ich Dich, dies ins Auge zu fassen, damit Du mir verzeihen kannst, was ich Dir alles verheimlicht habe und was aus mir geworden ist. Ich habe es nämlich Eduard zu verdanken, daß ich nicht zu Grunde ging, er hat mich fortwährend unterstützt, und Dich auch, liebe Mama, indem er Dir in meinem Namen das Monatliche auszahlte, was ich ja sehr gern gethan hätte, wenn ich es nur hätte können. Du kannst Dir denken, liebe Mama, wie mich das peinigte, wenn Du Dich immer bedanktest. Ich weiß gar nicht, wo all das viele Gelernte hin ist, denn nicht einmal für ganz untergeordnete Stellungen hat mein Kopf ausgereicht. Zuletzt bin ich Kellner gewesen im Café Kleiner, wo ich zuerst die Entdeckung machte, daß ich sehr geschickte Hände besitze, denn ich machte alles am besten und zerbrach nie etwas. Hier auch sollte mich der erste Glücksstrahl meines Lebens treffen; die Besitzerin des Cafés und des gleichnamigen Hotels war eine brave gutmütige Witwe in meinem Alter, kinderlos und sehr umworben. Allein meine feine Lebensart und elegante Erscheinung hat sie zu dem Schritt veranlaßt, mir ihre Hand und ihr Hotel anzubieten. Ich selbst hätte natürlich nie den Mut gehabt, bei ihr anzuklopfen. So siehst Du doch, liebe Mama, daß Deine gute Erziehung nicht umsonst war, sondern gute Früchte getragen hat. Wegen des Namens mache Dir keinen Knmmer: das Cafe behält den Namen Café Kleiner, und die Leute nennen mich Herr Kleiner. Es ist freilich mit mir ein wenig anders geworden als Du es wünschtest, aber zürne mir darum nicht, liebe Mama, es hätte noch viel schlimmer ausfallen können. Es geht mir jetzt so gut, daß ich gar zu gerne möchte, unsre ganze Familie wäre versöhnt. Meine Frau und ich bitten Dich, bei uns zu wohnen, Du sollst es sehr angenehm haben; ich versichere Dich, so ein warmes zweites Frühstück mit Rotwein ist nicht ohne! Ich wäre wirklich sehr glücklich, liebe Mama, wenn ich Dir alles vergelten könnte, was Du an mir gethan.
Dein aufrichtiger Sohn Kuno.“ 

Frau von Feldern ließ die Hand mit dem Brief ihres Sohnes sinken und starrte dessen Bild an; sie starrte es an, ohne es zu sehen, völlig geistesabwesend, als lauschte ihre Seele auf innere Stimmen, die sich da erhoben und nicht mehr zum Schweigen zu bringen waren. Die letzte Rede ihres Mannes fiel ihr ein, und es war ihr, als habe sie jene Worte, die er vor seinem Tode gesprochen, soeben wieder gehört aus dem Brief ihres Sohnes – ja, innerlich und äußerlich, sie waren sich ganz gleich! ...

Sie schauderte zusammen vor der entsetzlichen Helle, die sich plötzlich vor ihr aufthat, aber sie schaute hinein. „Schicksal, Schicksal,“ murmelten ihre zuckenden Lippen, „der eine giebt sein ‚von‘ auf, der andre seinen ganzen Namen!“ Sie stieß ein trockenes Lachen aus, das aber mit einem Schluchzen endigte; welch eine Oede, welch eine Armut des Daseins that sich mit einem Male vor ihren trostlosen Blicken auf – sich sagen zu müssen am Schlusse seines Lebens: es war alles umsonst, und Du hast nichts erreicht, nichts! ...

„Es ist alles Lüge gewesen,“ sagte sie laut und hart, „ein mühevolles Lügen, tagaus tagein – nun aber ist’s vorbei!“

Sie starrte das Bild ihres Sohnes an. „Er sieht aus wie ein Oberkellner – mache Dir das nur klar – mache Dir alles klar!“

Es läutete; Frau von Feldern fuhr in alter Gewohnheit nach dem Kopf, um das Spitzenhäubchen zu ordnen, das sie vergessen hatte, aufzusetzen, und öffnete.

Die Sonntagsgäste traten über die Schwelle – Frau Müller in rauschender Seide, mit dem unternehmenden Gesichtsausdruck einer Person, die sich auf einen lustigen Kampf gefaßt macht – Malchen mit dem stark markierten Bühnenlächeln, das aber urplötzlich von ihrem Gesicht verschwand, während Frau Müller die Augenbrauen bis unter die Haarfransen zog; vor ihnen stand eine gebrochene, unbeschreiblich leidend aussehende Gestalt, die aber, kaum war die erste Frage laut geworden: „Sind Sie krank – fehlt Ihnen etwas?“ wieder aufschnellte und in ihrem alten Ton erwiderte: „Nichts von Bedeutung –“

Man stürzte über Kunos Bild her, und Frau Müller rief beinahe zornig aus: „Herrgott, jetzt hat der Meusch auch noch dicke Backen ’kriegt,“ – sie nahm ihre Lorgnette – „wahrhaftig, ganz dicke Backen!“

Frau von Feldern bereitete den Thee; ihre Hände thaten mechanisch die gewohnten Dinge, während sie innerlich fortwährend nach Fassung rang.

Aber als Frau Müller ihren Thee hatte, schrie diese laut auf: „Pfui Teufel, was haben Sie mir da für ein Getränk gegeben, ich glaub’ wahrhaftig, ’s ist Lindenblütenthee –“

„Entschuldigen Sie –“ Frau von Feldern nahm die Tasse zurück, „eine kleine Verwechslung; da es mir wirklich nicht ganz gut ist, habe ich mir zum erstenmal in meinem Leben Lindenblütenthee gekocht.“

Frau Müller betrachtete Kunos Bild und dann die blasse, veränderte Frau. „Sie,“ sagte sie Malchen ins Ohr, „da hat’s schlechte Nachrichten gegeben, ich wett’ –“ Aber sie that keine Frage und Malchen auch nicht, und so entstand eine Totenstille.

Frau von Feldern sollte die Erfahrung machen, daß für einen, der sein ganzes Leben gelogen hat, die Wahrheit keine leichte Sache ist. Es drängte sie, das Gewebe zu zerreißen und damit herauszukommen, was doch nicht zu verbergen war, aber der gerade Weg war ihr unbekannt.

„Kunochen hat eine sehr gute Partie gemacht,“ sagte sie mit einem eigentümlichen Zittern ihrer Stimme, „ich habe wenigstens selbständige Söhne erzogen und nicht solche, die ewig an der Schürze ihrer Mutter hängen.“

„Das war vorauszusehen,“ fiel ihr Malchen ins Wort, „ich wundere mich über gar nichts, und wenn Kunochen eine Prinzessin geheiratet hätte. Ist sie hübsch? Hat er nicht ihr Bild geschickt?“

„Sie wird gemalt, ich bekomme sie gemalt; sie soll eine wunderschöne Frau sein,“ sagte Frau von Feldern. „Es giebt ja nichts Dümmeres auf der Welt als Hochmut, und darum bin ich auch ganz zufrieden, obwohl sie die Tochter aus einem der ersten Hotels in Berlin ist; sie war sogar bereits ein halbes Jahr verheiratet, aber das geniert mich auch nicht, wo so viel Schönheit und Reichtum ist – die Kinder sind unbeschreiblich glücklich, und ich mit ihnen!“

[99] Frau Müller und Malchen warfen einen kurzen Blick auf die Sprecherin, deren Aussehen mit dieser Behauptung im grellsten Widerspruch stand. Aber Malchen war nicht umsonst Schauspielerin, und so legte sie sich ins Zeug und spielte die Unbefangene, allerdings nicht besser als auf der Bühne, aber ihre hohlen Reden und Worte ohne Sinn waren in diesem Augenblick eine große Wohlthat für Frau von Feldern. Sie saß wie in Todesangst vor einer plötzlichen, den Nagel auf den Kopf treffenden Bemerkung der Frau Müller, deren Augen immer auf der Wanderschaft waren zwischen ihr und dem Bilde Kunos und um deren Lippen allerlei verräterische Geister ihr Spiel trieben. Die Verstellungskunst ging ihr allerdings vollständig ab, sie atmete hörbar vor innerer Aufregung, indem sie zu sich selber sprach:

„Wenn ich sie jetzt nicht unterkrieg’, dann krieg’ ich sie nie unter – nur ein wenig, ein klein wenig will ich’s ihr zeigen, daß ich mich nicht zum Narren halten laß’.“

Sie legte die Hand auf den Arm des Kunos Lob in allen Tonarten singenden Malchens. „Also auch nichts andres als eine Bürgerstochter, gerad’ wie der Eduard –“

„Ja, Eduard,“ nahm ihr Frau von Feldern das Wort aus dem Mund, „er weiß noch von nichts – ich werde ihm selber die Nachricht bringen.“

Großer Gott, was muß da passiert sein, was diese Frau innerlich so um und um hat wandeln können, sagte sich Frau Müller und kam mit sich überein: Nein, einer gebrochenen Seele will ich nichts zu leid thun, ich ganz gewiß nicht. – „Kommen Sie, Malchen,“ fuhr sie laut fort, „wir wollen Frau von Feldern nicht in ihrem Vorhaben aufhalten, es ist ohnedies ein so schöner Tag, da geht man gern noch ein bissel spazieren.“

Sie schüttelte Frau von Feldern die Hand zwei-, dreimal.

Draußen packte sie Malchen mit einer solchen Heftigkeit beim Arme, daß diese aufschrie. „Fast geplatzt bin ich – ich muß meine Hutbänder aufmachen – Jesses, Malchen, bleiben Sie bei mir – wenn mich nur kein Schlag trifft! Wissen Sie, Malchen, ich hab’ denkt’, jetzt krieg’ ich sie endlich unter – ja hopsa! da war’s wieder nichts. Daß ich’s nur gerad’ sag’ – fast sind mir die Thränen in die Augen gekommen, und ich kann’s nicht sagen, wie’s mich ’packt hat, daß sie zum Eduard geht. Das Kunochen muß eine böse Partie gemacht haben, potz Wetter noch einmal! Denken Sie an mich, Malchen – die Witwe läßt sich nicht malen, die wird wissen warum! – Großer, allmächtiger Gott! ja, ja, es kommt alles anders – Kinder haben ist nicht immer ein Pläsier, aber wenn der Eduard mein wär’, ich wollt’ gern drei Stock hoch springen, und wenn ich ein Bein dabei brechen thät! – Aber kommen Sie, kommen Sie, Malchen, wir gehen in eine Konditorei, mich hat die Geschicht’ angegriffen, ich laß uns ein Eis geben und nachher einen Liqueur, denn so ’was muß man leben lassen – daß die Feldern zu ihrem Eduard geht!“

Als Frau von Feldern sich dem Schneiderschen Hause näherte, machte sie große Augen über den neuen hübschen Laden mit den blanken Fenstern und der überaus appetitlichen Auslage. Sie ging durch die Einfahrt und blieb dann schweratmend unter der Hofthüre stehen; auch hier war alles anders, als sie es verlassen; ein prächtiger, grüner Rasen dehnte sich unter der Linde aus, ein rechter Tummelplatz für Kinder; an der Stelle des niedrigen Erdgeschosses stand ein schönes Hochparterre mit breiter Veranda. Frau von Feldern mußte sich einen Augenblick an der Thüre festhalten; sie hatte zwei Kinderköpfchen entdeckt, die an einem Tisch saßen und Milch tranken; blitzschnell erwachte in ihr die alte Natur, und sie erhob sich auf den Zehenspitzen, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung vor sich gehe. Ja, völlig, völlig! – es nahm ihr fast den Atem. Allein die schnarrende Stimme des Herrn Schneider, der sich mit den Kindern abgab, brachte sie zu sich selbst: ein Gefühl glühender Eifersucht durchfuhr ihre Glieder: rasch schritt sie über den Rasen und erschien plötzlich auf den Stufen der Veranda.

„Ei du heiliges Kreuz, die Feldern –“ empfing sie der Großvater ihrer Enkel, aber er war purpurrot und zitterte an allen Gliedern, „um Gotteswillen, bitte – bitte –“

Er schob der Frau, die angesichts der sie groß anschauenden Kleinen zu wanken anfing, flugs einen Stuhl unter.

„Und das ist der Eduard Feldern, und das der Kuno Feldern,“ sagte er und setzte ihr beide Büblein auf den Schoß.

Sie drückte die Kinder mit einem wonnigen Aufschluchzen ans Herz. „Ja, ja, Herr Schneider,“ preßte sie unter den nicht mehr zurückzuhaltenden Thränen hervor, „Sie haben gesiegt –“

„Bilden Sie sich so ’was nicht ein, sondern sehen Sie mich an“ – er saß da, die Ellbogen auf dem Tisch, die Hände in den Haaren – „die reinsten Barone sind wir – alle miteinander – wenn Sie noch einen Flecken an meinem Rock sehen wollen, müssen Sie eine Lupe nehmen – und diese Kinder – jawohl, da hat sich was mit meinem Sieg. Den ganzen Tag heißt’s: das dürfte Großmama Feldern nicht sehen – jenes dürfte Großmama Feldern nicht hören! – Und der Großvater Schneider – je nun, was will er machen – wenn alles nach Ihrer Pfeife tanzt, so muß ich halt mittanzen, aber leicht ist mir’s nicht geworden und manchmal schon hab’ ich gedacht – hol Sie der – o Herrgott“ unterbrach er sich, „die werden mich ja steinigen, daß ich da lang’ schwatze –“ und rannte unter fürchterlichem Schneuzen davon.

Frau von Feldern hatte die Rede des ehemaligen Todfeindes wohl gethan, sie hatte sie erheitert.

Als Eduard und seine Frau mit überquellendem Herzen, glückselig und doch wieder zagend herbeigeeilt kamen, fanden sie keine strenge, großmütig verzeihende Mutter, sondern eine mildblickende glückstrahlende Großmutter, die jeder Rührung die Spitze abbrach, indem sie die Eltern ihrer Enkel mit den Worten empfing:

„Wie habt Ihr sie wohl erzogen!“