„Verstimmt“
[696] „Verstimmt“ (Abbildung Seite 685) – freilich, aber nicht blos das Instrument ist verstimmt, sondern offenbar auch das arme, schöne Kind, das an den Wirbeln der Mandoline rückt, um die Töne der Saiten richtig zu stellen. Das ist nicht immer leicht, besonders wenn frische Saiten aufgezogen sind, aber so schwer ist’s doch nicht, als über die andere Verstimmung Herr zu werden, die ohne allen Zweifel in den Zügen des jungen Angesichts sich bemerklich macht. Unser geistreicher Freund Thumann würde bedenklich das edle Haupt schütteln, wenn wir ihm zutrauen wollten, daß er sein künstlerisches Genie daran wende, um weiter nichts darzustellen, als wie ein armes Mädchen ein altes Instrument zu stimmen sucht. Auch den jungen Mann, der sich scheinbar behaglich auf seinem Lazzaroni-Sopha ausstreckt, dürfen wir uns nicht ohne Beziehung zu dem Mädchen denken; er sieht ihrer Bemühung schwerlich nur zu, weil er eben weiter nichts zu thun hat.
Am deutlichsten spricht aber ein Gegenstand, den man vielleicht kaum beachtet hätte: der Korb am Wege, der leer, ganz leer ist. Und so wird es uns immer wahrscheinlicher, daß hier abermals zwei junge Leute auf dieser schönen Erde durch ein uraltes Band verbunden sind: durch das Doppelband der Liebe und der Armuth.
Jetzt ist’s am Tage: zu ihrem Saitenspiele singt die schöne Arme um das tägliche Brod. – Lenau hat einmal in einem rührenden Gedicht die Kinder beklagt, welche die ersten Veilchen, des Frühlings ersten Gruß, um schnöden Mammon feil bieten müssen. Das Bild Thumann’s ist ein fast noch rührenderes Gedicht. Ist dieses Mädchen nicht selbst ein Frühlingsgruß? Und nun geht sie, mit gestimmter Mandoline, aber verstimmtem Herzen, um die Blumen der Poesie dem Moloch Publicum – zu verkaufen. Bald werden wir sie vor einer Café- oder Weinhalle, auf einem belebten Platze oder in einem offenen Garten ihre Lieder singen hören; uns wird jeder Ton zu Gemüth gehen, aber wie selten greift Einer „aus den besseren Ständen“ zu einer ihm ganz entbehrlichen Münze, um sie der Armen hinzuwerfen!
Ich saß einmal im Weingarten des „Tiroler Wastel“ hoch oben beim Castell von Triest, mit den Augen im unvergleichlichen Bilde des strahlenden Meeres schwärmend, als eine Laute und ein liebliches Lied aus einem Mädchenmunde erklang. Ich lauschte auf, und unweit von mir lauschte auch eine ganze Gesellschaft von übermäßig mit goldenen Ringen, Ketten und Spangen aufgeputzten Leuten – offenbar „der besseren Stände“. Alle wackelten mit den Köpfen vor eitel musikalischem Vergnügen. Als aber die Sängerin mit dem Notenblättchen an sie herantrat, regte sich keine Hand; sie nickten auch jetzt, gerade wie die Armen vor dem Klingelbeutel in der Kirche. Da ward mein Zorn gewaltig groß; ich hielt der sparsamen Sippe eine scharfe Rede (von der sie kein Wort verstanden; denn es waren Italiener) und bezahlte um so mehr, aus empörtem Kunstgenossenschaftsgefühl. Wie dankte mir da ein Blick und das süßeste: „Grazie tante, Signor!“ Das freut mich heute noch; denn – da hatte ich gut gestimmt.