„Vater Werner“ †
[562] „Vater Werner“ †. (Mit Illustration S. 561.) „Vater Werner todt!“ Von Reutlingen aus verbreitete sich diese schmerzliche Kunde, welche namentlich im Schwabenlande einen lebhaften Widerhall fand, denn dort weiß man es am besten, welch ein edles Herz aufgehört hat zu schlagen; dort weiß man aus eigener Erfahrung, daß Hunderte, ja Tausende Unglücklicher einen wirklichen Helfer in der Noth verloren haben. Aber auch den Lesern der „Gartenlaube“ ist der Name des Reisepredigers Gustav Werner, des ehrwürdigen Menschenfreundes und Liebesapostels, nicht fremd. Seine rastlose Wirksamkeit auf dem Gebiete der Fürsorge für die Armen ist schon in einem früheren Jahrgang dieses [563] Blattes (1862, Nr. 15) geschildert worden. Jetzt wo er als 78jähriger Greis in der Nacht vom 2. auf 3. August für immer seine Augen geschlossen, erachten wir es für unsere Pflicht, noch einmal die Gestalt des Mannes unseren Lesern vor Augen zu führen und kurz auf das große Werk eines edlen Lebens hinzuweisen, welches so Vielen zum Trost gereichte und als leuchtendes Vorbild echter Menschenliebe hingestellt zu werden verdient.
Werner war geboren den 12. März 1809 als Sohn einer ausgezeichneten württembergischen Beamtenfamilie, streng und einfach, aber liebevoll erzogen, in der Klosterschule zu Maulbronn und im Stifte zu Tübingen als Theologe gebildet. Nachdem er in Straßburg die edeln Bestrebungen des berühmten Steinthaler Pfarrers J. F. Oberlin kennen gelernt, kam er im Jahre 1834 als Vikar nach Walddorf, einem mit zwei Filialen verbundenen kleinen Dorfe bei Tübingen. Ungeheuren Zulauf von nah und fern fand der junge Prediger, der, ein Reich der Liebe und Gerechtigkeit als Kern des Christenthums verkündend, bald in weiteren Kreisen bekannt und vielfach auch von auswärts zu Vorträgen aufgefordert wurde. Obwohl er von mancher Seite befehdet und sogar aus der Liste der Predigtamtskandidaten gestrichen wurde, unterließ er doch nicht, seine Grundsätze in die That zu übertragen, und gründete, neben anderen gemeinnützigen Einrichtungen, in seinen Gemeinden Strickschulen und Kleinkinderschulen, welche von dienstwilligen Jungfrauen des Orts besorgt wurden. Im Jahre 1837 schlossen sich hieran die Anfänge eines Erziehungshauses für arme und verwaiste Kinder, das 1840 bereits 10 Zöglinge hatte. In diesem Jahr verließ er den Kirchendienst, widmete sich von jetzt ab ausschließlich der immer mehr begehrten Reisepredigt, die sich nach und nach über einen großen Theil von Württemberg und bis in die Schweiz ausdehnte, und siedelte mit seiner Anstalt nach Reutlingen über, zuerst in eine Miethwohnung, später in ein eigenes Haus. Angeregt durch sein Wort und Beispiel, gesellte sich hier zu ihm in treuer und lohnfreier Mitarbeit eine wachsende Zahl von Jungfrauen, deren eine er sich im Jahre 1841 zur Gattin erkor, später auch junge Männer. Man betrieb, theils als Erziehungsmittel, theils zum Broterwerb, Landwirthschaft und weibliche Industrie. Das Bedürfniß jedoch, die Kinder auch noch nach der Konfirmation einige Jahre zu behalten, ferner die mehr und mehr auftauchende sociale Frage, endlich die in den 1850er Jahren herrschende allgemeine Noth, welche nicht bloß für Kinder, sondern auch für hilflose Erwachsene jeder Art Versorgung in der Werner’schen Anstalt suchte, trieb den unermüdlichen Mann zu neuen Unternehmungen.
Die Reutlinger Anstalt wurde erweitert durch Pacht und Ankauf neuer Grundstücke, durch Errichtung von gewerblichen Werkstätten, durch den Ankauf und Betrieb einer Papierfabrik, welche jedoch später nach Dettingen verlegt und durch eine Maschinenfabrik ersetzt wurde, endlich in den letzten Jahren durch eine Möbelfabrik. Man gründete unter dem Namen „Zum Bruderhaus“, der aus geschäftlichen Gründen jeder Fabrik beigelegt wurde, in verschiedenen Gegenden des Landes, vorzüglich auf dem Schwarzwald, eine Reihe von Zweiganstalten mit gewerblichem oder landwirthschaftlichem Betrieb, welche unter der Oberaufsicht Vater Werner’s von früheren Angehörigen der Reutlinger Mutteranstalt geleitet wurden. Die jüngste bauliche Erweiterung erfuhr in den letzten Jahren die Reutlinger Anstalt durch Errichtung eines „Kinderhauses“, das heißt eines besonderen Gebäudes für Wohnungen und Schulräume der Kinder, sowie des Aufsichts- und Lehrpersonals, und durch Erbauung eines Krankenasyls. Alle diese Anstalten beherbergen zur Zeit gegen 1000 Personen (wovon 700 aus Württemberg), nämlich 160 „Hausgenossen“ (Mitglieder), und mehr als 800 Pfleglinge, wovon 200 Kinder und 120 Lehrlinge. Außerdem beschäftigen die drei Fabriken 500 Arbeiter, welche außerhalb der Anstalten wohnen. Der Werth sämmtlicher[WS 1] Niederlassungen beläuft sich auf etwa 1½ bis 2 Millionen Mark, worauf noch etwa ein Drittel Schulden haften.
Ein dem ehrwürdigen Greise befreundeter Künstler (R. Heck in Stuttgart) hat es unternommen, bei dessen letztem Geburtstag den Betsaal des Kinderhauses mit einem großen Oelgemälde (Figuren in Lebensgröße) zu schmücken und dem Gründer all dieser Anstalten ein würdiges Denkmal zu stiften, von dem wir auf Seite 561 eine kleine Skizze geben.
Das rührende Bild erklärt sich von selbst. In der Mitte steht „Vater Werner“, der hochgewachsene Greis mit den freundlich ernsten Zügen, auf dem einen Arme ein dürftig gekleidetes Kind, das sich zutraulich an ihn schmiegt, während die andere Hand tröstend einem hilfesuchenden alten Mann auf der Schulter ruht. Neben diesem steht ein frischer aufgeweckter Junge, der mit seinem Spaten eben an die Arbeit geht, und auf der andern Seite unter den Bäumen des Gartens befindet sich, geleitet von einer freundlichen Lehrerin, eine weibliche Arbeitsschule. Den Hintergrund bilden die Anstalts- und Fabrikgebäude, in weiterer Ferne die Stadt Reutlingen mit ihrem schönen gothischen Marienthurm und die Achalm mit dem Höhenzug der schwäbischen Alb.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: sämmlicher