„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“
Wer von dem Städtchen Rorschach am Bodensee auf der alten Straße nach St. Gallen wandert, gelangt etwa eine Stunde vor letzterer Stadt an die nach Heiden abzweigende Landstraße und dieser abwärts folgend nach dem Martinstobel, der wilden Schlucht des Goldachs. Eine eiserne Brücke verbindet heute die fast senkrecht emporstrebenden Felsenwände; vor noch nicht vielen Jahren nahm ihre Stelle die hölzerne „Martinsbrücke“ ein, die, 1468 erbaut, das älteste Hängewerk der östlichen Schweiz bildete. Doch auch diese hölzerne Brücke war die Nachfolgerin einer weit älteren gewesen.
Es mögen jetzt wohl gerade tausend Jahre her sein, da versuchte man an gleicher Stelle, etwa 100 Fuß über den schäumenden Fluthen des Bachs die beiden Felsenufer durch gewaltige Baumstämme mit einander zu verbinden und so einen Uebergang zu gewinnen. Es war ein für die damalige Zeit schweres und gefährliches Unternehmen, wo die Menschen, besonders diejenigen, welche jene Berge bewohnten, noch weit davon entfernt waren, die zu solchen Bauten nöthigen Hilfsmittel zu kennen und in Anwendung zu bringen, dafür in erster Linie auf ihre Körperkraft, ihren Muth angewiesen waren. Die Gegend war damals noch immer eine Wildniß, wenn auch nicht mehr eine so unwirthliche und öde, wie etwa zwei Jahrhunderte früher der heilige Gallus sie angetroffen hatte, als er von dem alten Arbon aus hinauf in diese Wüstung, nur von Bären und anderen wilden Thieren bewohnt, gezogen war, um hier nur Gott und seinem Glauben zu leben. Sie lag nicht weit von der Stelle, wo der glaubenseifrige Gottesbote in die Dornen fiel und in seiner frommen Einfalt zu seinen beiden Gefährten sagte: „Laßt mich liegen! Es ist Gottes Wille, hier soll ich bleiben!“ wo er dann, der Sage nach, sein Brot mit einem zahmen Bären theilte, in Wirklichkeit aber das nach ihm benannte Kloster gründete, dem dann die Stadt St. Gallen ihren Ursprung verdankte. Das Kloster gedieh rascher als die Gegend zu schöner Blüthe, sowohl durch mildthätige Schenkungen wie durch den Eintritt frommer Männer, die sich in stiller Zelle neben geistlichen Uebungen gelehrten Forschungen widmeten. Bereits im 9. Jahrhundert erhob sich an Stelle der einfachen Kapelle des heiligen Gallus die stattliche Klosterkirche mit den weitläufigen Bauwerken für die Mönche, unter deren Schutze sich Leute aus dem Volke Wohnstätten errichtet hatten und nun versuchten, die Berglehnen und Thäler ur- und nutzbar zu machen. Die von St. Gallus eingeführten Klosterregeln seines Lehrers und Gefährten, des heiligen Columban, hatten die Mönche mit den Jahren gegen die des heiligen Benedikt von Nursia vertauscht, welche weniger strenge, ihrer geistigen Thätigkeit förderlicher waren. Hierdurch sollte das Kloster mit der Zeit die Pflanzschule der Gelehrsamkeit für die ganze gebildete Christenheit werden, was für die entstehende Stadt wie für die Entwickelung der Kulturverhältnisse der ganzen Seegegend von den tiefgreifendsten, wohlthätigsten Folgen sein mußte. –
Es war nun die Zeit jenes ersten Brückenbaus, also wohl gerade vor tausend Jahren; da schritt an einem sonnigen Tage ein junger Mönch aus den Zellen des heiligen Gallus über die Höhen in der Richtung nach der Seegegend und der Goldachschlucht hin. Er war von kleiner Gestalt, und die weiße Kutte hing faltig um den schmächtigen Körper nieder, der durch das schwarze Oberkleid nur noch unscheinbarer werden mußte. Der Kopf mit der kahlen Platte und dem lang niederhängenden Haarkranz war für das Mönchlein viel zu groß; doch die Augen blickten, wenn der sinnend Dahinschreitende sie hob, mit einem kühnen Selbstbewußtsein und einer überlegenen Geisteskraft in die Weite und kündeten zugleich, daß dem schmächtigen Körper volle Manneskraft innewohnen mußte. Er hieß Notker, mit dem Beinamen „Balbulus“, der Stammler, weil er mit der Zunge anstieß und ihm die Rede höchst unbeholfen floß. Erhob er aber seine Stimme zum Gesang, so ertönte sie, als ob ein Wunder ihm geschehen sei, voll und klar, und ohne Stockung hallte sie durch das Gotteshaus, besonders bei den frommen Chorgesängen, die nach der Ordensregel in jeder Nacht zweimal angestimmt werden mußten. Seines sprachlichen Uebelstandes halber liebte und suchte er auch die Einsamkeit, welche zugleich seinen ernsten Gedanken und Studien eben so förderlich war, wie seinem Triebe, das in Tönen auszudrücken, was ihm in der Redeform nicht möglich werden konnte.
Notker stammte aus dem adeligen Geschlecht derer von Elk. Um 850 zu Heiligau in der Nähe von St. Gallen geboren, trat er schon als Knabe in die Klosterschule ein, und die Kunst der Musik erlernte er von den Mönchen, die wiederum solchen Unterricht von einem Römer erhalten hatten, der von Karl dem Großen nach Metz berufen worden, doch auf seiner Reise im Kloster des heiligen Gallus erkrankt und dann dort geblieben war. Zu jener Zeit war den Laien, nach den strengen Regeln des vom Papst Gregor dem Großen eingeschränkten Kirchengesanges, kaum gestattet, beim Gottesdienste die Stimme zu erheben. Auf die letzte Silbe des „Hallelujah“, sang das Volk Tonreihen ohne Text, also nur auf dem Vokal a, die man „Jubilos“ nannte. Dieser Folge von Tönen, „Sequenzen“, hatte Notker lateinische Textworte untergelegt, wie er auch die prosaischen Antiphonen, Wechselgesänge nach Bibelstellen, mit einem neuen metrischen Text versah. Diese Neuerungen des St. Gallener Mönchs, welche sich rasch verbreiteten und von den Laien freudig angenommen wurden, gaben dem Kirchengesange allmählich eine gefälligere und wirksamere Form, wodurch der Gottesdienst nur gewinnen konnte und einen tieferen Eindruck auf die betende Gemeinde auszuüben im Stande war.
Nur mit seinen Gedanken beschäftigt, war Notker auf der Höhe angelangt, wo die steil abfallenden Felsen der Goldachschlucht bald seinen Schritten Halt gebieten mußten. Jetzt erst schaute er auf, und das große klare Auge strahlte, als nun der [332] See sich in seiner ganzen majestätischen Weite mit den bewaldeten Ufern und den einzelnen, entstehenden Ortschaften vor seinen Blicken ausbreitete. Doch auch das Bild, welches sich ihm an seiner rechten Seite zeigte, entlockte dem frommen Manne einen Ruf heiliger Freude. Der wellenförmig sich in weiter Ferne nach dem Rheinthal abflachende Höhenzug war bereits zum größten Theil gerodet und an Stelle der Waldungen breiteten sich frische grüne Matten aus, auf denen Kühe und Ziegen, einzeln und in kleinen Herden weideten; ein Zeichen, daß St. Gallus’ Segen sichtlich auf der Gegend ruhte, welche der Heilige als Wildniß und Oede betreten hatte. In seiner frommen Herzensfreude stimmte Notker leise eine seiner Sequenzen an, in der er Gott den Herrn, seine Güte und Allmacht mit begeisterten Worten lobte. Da mischte sich in seinen geistlichen Sang unerwartet ein heller Freudenjauchzer, den in der Ferne auf einer der grünen Bergwiesen eine frische Frauenstimme hervorstieß. Unwillkürlich wandte der Mönch den Kopf zur Seite, da erblickte er eine der jungen Hirtinnen, welche ihr weltliches Singen und Jauchzen, ohne erkennbare melodische Folge, aus voller Brust ertönen ließ. Doch die Singende war nicht allein; ein Mann, den ärmellosen Wildkoller auf der Achsel, stand bei ihr und versuchte nun auch gleich freudig in ihren Sang mit einzustimmen. Nun umfing er sogar mit nicht zu mißdeutender Gebärde seine junge Gefährtin. Da kehrte der Mönch seinen Blick wieder von der Gruppe ab, und sein Singen endend sagte er leise vor sich hin: „Siehe da! das Volk singt der Kirche Sequenzen auf seine Weise – mit Jauchzern untermischt. Wie lange wird’s dauern, und es hat auch die ihm passend dünkenden Worte für die Weise gefunden und – der weltliche, der Natur- und Volksgesang steht dem Kunstgesange der Kirche gegenüber – mit der Zeit vielleicht als ein gefährlicher Gegner. Wäre dem nicht vorzubeugen? Thor!“ tönte es nach einer Pause zwischen den halbgeschlossenen Lippen vorwurfsvoll hervor, „wähnest Du vermessen, dem Drang eines ganzen Volkes, seine Freude in Tönen auszudrücken, Fesseln anlegen zu können? Es wäre Sünde, dies zu wollen. Doch solchen Trieb in die rechte Bahn zu lenken, ihn für den Ernst des Lebens der Kirche unterthan zu machen, das wäre ein gottgefälliges und auch der Menschheit nutzbringendes Werk. Das darf und – will ich unternehmen und mit Gottes Hilfe auch zu verwirklichen suchen“
Notker war weiter vorgetreten und nun am Rande der Schlucht angelangt. Hier ließ er sich auf einen bemoosten Stein nieder und blickte hinab in die Tiefe, wo der Wildbach schäumend über mächtige Felsblöcke und steiniges Gerölle dahinschoß. Er sah eine Anzahl Männer, die damit beschäftigt waren, gewaltige Baumstämme zu einem Uebergang über die Schlucht mit dem wildtosenden Bergwasser zusammenzufügen. Die Arbeit war schon ziemlich weit vorangeschritten. Aus der Tiefe stiegen Streben auf, die, von allen Seiten gestützt, ein zweites Balkengerüste trugen, das der eigentlichen Brücke als Unterlage dienen sollte. Eben waren die Leute dabei, die längsten der Stämme als Quer- und Verbindungsstücke in die richtige Lage zu bringen, was nur mit größter Anstrengung und gleicher Vorsicht zu ermöglichen war. Des Mönches zarte Gestalt schauerte bei diesem Anblick zusammen, dann murmelte er. „Dort, mir zur Seite, ein Paradies – hier, vor mir, die Unterwelt mit ihren Schrecken! – Dort das frische, fröhliche Leben, die Freude an der herrlichen Gotteswelt – hier unten ein Ringen mit dem Tode!“ Dann fügte er, wieder in den psalmodirenden Ton verfallend, hinzu. „ Kyrie eleison! Christe eleison – Herr, erbarme Dich ihrer!“
Da ertönte plötzlich in seiner Nähe eine Männerstimme, die wohl ehrerbietig, doch auch mit einer unverkennbaren freudigen Erregung rief. „Unser Herregott sei gelobt und gedankt! Seine Gnade läßt mich gerade Euch am Wege finden, frommer Vater, um von Euch den Segen zu erhalten,“ und vor dem Mönche stand derselbe Mann aus dem Volke, der vorhin mit der Hirtin um die Wette gesungen hatte. Es war eine jugendliche kraftstrotzende Gestalt, mit gebräunten Zügen und blitzenden Augen. Auf dem dunklen krausen Haar saß eine Wollmütze mit dem schmucken Federspiel eines wilden Berghahns geziert, und der ärmellose Koller, den er über die Schulter geworfen trug, war das Fell eines jungen Bären, den er mit seinen Händen erwürgt hatte.
„In nomine Dei sei gegrüßt, Hilty!“ entgegnete Notker, mühsam die Worte hervorbringend, doch mit einem freundlichen Blick auf den jungen Bauer. „Und nun sage mir, zu was der Segen eines armen Mönches Dir frommen soll?“
„Das Anneli auf dem Geißbühel drüben und ich, wir sind soeben einig geworden. Morgen, am Sonntag, nach dem Hochamt, kommen wir zu dem hochwürdigsten Herrn Abt, auf daß er uns zusammengebe für das Leben. – O, für Alles ist gesorgt, frommer Vater! Mein Anneli bleibt bei der Herde des gestrengen Herrn Klostervogts; ich zimmere uns drüben auf der Alm eine Hütte und schaffe weiter für das Kloster, wie jetzt bei der Brücke dort unten. Zwei Geißen hat das Anneli, die geben uns Milch und Käse; und ich verdiene das Brot dazu. Da werden wir leben wie im Paradiese! – Ju -!“
In einem Athem hatte der Bursche dies Alles hergesagt; die Freude gestattete dem glücklichen Menschenkinde kein ruhiges Reden, wie sich dies wohl geziemt hätte. Doch den Jauchzer unterdrückte er denn noch glücklicher Weise zu rechten Zeit.
„Das erklärt und entschuldigt auch Dein spätes Erscheinen bei der Arbeit, die von den Männern dort unten schon längst wieder aufgenommen wurde – und doppelt gerechtfertigt ist Dein Wunsch nach dem Segen eines Dieners des Herrn und der Kirche. Kniee nieder, Hilty!“ So sprach Notker zu dem jungen Manne, der bereits die Mütze abgenommen hatte und nun niederkniete. Der Mönch legte ihm die Hände auf das Haupt, und den Blick nach oben gerichtet, sprach er mit einer solchen heiligen Ueberzeugung und Innigkeit, daß sein Stammeln der Feierlichkeit des Augenblicks keinen Abbruch zu thun vermochte, also: „Der Herr segne Dich, und seine Gnade sei mit Dir bis an Dein Lebensende! Der Herr beschütze Dich und wehre von Dir ab Gefahr und Noth, wie sie in seinem Berufe jedem Menschen droht. Amen! – Und nun, mein Sohn, gehe mit Gott an Dein Werk und denke, was Er thut, ist wohlgethan!“
Dem jungen Menschen mußten die Segensworte des Mönches einen tiefen Eindruck gemacht haben; denn in seinen Augen glänzten Thränen, die auf die Hand Notker’s niedertropften, als er sich darüber beugte, sie mit ehrfurchtsvollem Dank zu küssen. Dann erhob er sich. Da erklang in der Ferne das helle Jauchzen und Singen der Frauenstimme wieder, und Alles um sich her vergessend, nur seines lieben Anneli’s gedenkend, das ja schon morgen ihm als Weib für das ganze Leben angehören sollte, stieß Hilty einen gleich fröhlichen, dabei urkräftigen Jauchzer als Antwort aus und eilte dann auf dem Wege davon, der ihn in die Tiefe der Schlucht, zu den arbeitenden Genossen führen mußte.
Fast eine Stunde war vergangen, die Sonne dem Scheiden nahe, und Notker, der Stammler, saß noch immer wie festgebannt auf seinem Steine, die Augen nicht abgewendet von den tief unter ihm arbeitenden Männern. Im Grunde folgte er doch nur dem Thun des jungen Hilty; denn dieser hatte in seiner Jugendkraft, in seiner augenblicklichen Ueberfülle an sonnigem Lebensglück den gefährlichsten Theil der Arbeit übernommen. Auf dem förmlich in der Luft schwebenden Ende eines der Querhölzer saß er und arbeitete daran, den zweiten Stamm, der ihm zugeschoben wurde, in die richtige Lage zu bringen. Besorgt wie ein Bruder um den Bruder – bald mit steigender Angst, sah Notker dem wohl allzu kühnen Mühen des jungen Mannes zu, dem mitten im vollen Leben der Tod so nahe war. Da ertönte plötzlich aus der Tiefe, von dem schwanken Balkengerüste her, ein schriller Schrei zu ihm hinauf. Dann folgte ein Krachen und Prasseln, das donnerartig und im Verein mit dem Aufkreischen und Rufen vieler Männerstimmen auch unheimlich die Schlucht durchhallte.
Ein Blick hatte dem Mönche das Entsetzliche gezeigt, das da so urplötzlich vorgegangen war. Durch die fast übermenschlichen und unbedachten Anstrengungen der Männer, und besonders Hilty’s, den riesigen Baumstamm in die richtige Lage zu bringen, waren die unteren Streben ins Wanken gerathen und, jäh ihren Halt verlierend, zusammengebrochen. In ihrem Niederstürzen hatten sie den armen Burschen mit sich in die Tiefe gerissen.
Notker war sofort aufgesprungen, die weiße Kutte zu zusammenraffend, flog er den Abhang hinunter in die Schlucht. Doch nicht bei dem Stand der Männer machte er Halt – mit der Behendigkeit einer Gemse kletterte er weiter hinab in die Schlucht, [334] dorthin, wo jetzt die Wasser des Baches noch wilder tosten und schäumten, dorthin wo der Körper Hilty’s unter den Baumstämmen sichtbar war, regungslos wie diese, welche sich zwischen den Felsen fest eingeklemmt hatten. Als Erster war der Mönch zur Stelle, und als die Gefährten des Verunglückten auch nach und nach anlangten, da hatte Notker, des Wassers nicht achtend, das ihm die Kutte, die nackten Beine netzte, bereits den Körper untersucht und den Tod des Armen erkannt. Einer der Querbalken hatte ihn an der Schläfe getroffen; denn dort rieselte ein schmaler Blutstreifen unaufhörlich dem Nacken zu und färbte das schäumende Wasser an dieser Stelle mit einem leichten Roth. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; denn die Züge lächelten noch: mit einem frohen Gedanken an sein armes Liebchen, wohl auch beruhigt durch den empfangenen Segen des Priesters, war er hinübergegangen.
Den kurz und bestimmt gegebenen Befehlen Notker’s gehorchend, schafften die Arbeiter den Baumstamm, welcher den leblosen Körper gefangen hielt, bald zur Seite, und mit einer Kraft, die man der kleinen, schmächtigen Gestalt des Mönches nimmer zugetraut haben würde, lud dieser den Todten sich auf die Schulter. Die anderen Männer, welche tief ergriffen kaum eine laute Klage wagten, halfen nach, und unter Anspannung aller Kräfte erreichte die Gruppe mit ihrer schweren Bürde auch glücklich die Höhe – von neuen herzzerreißenden Klagen empfangen. Das arme Anneli war, von dem Krachen und Poltern der in die Tiefe stürzenden Balken aufgeschreckt, in einer wahren Todesangst herbeigeeilt, um hier den Mann, den sie eben noch in voller Lebenskraft geschaut, der sie in Liebe umfangen gehalten hatte und morgen schon ihr Gefährte für das Leben werden sollte – todt und verstümmelt zu ihren Füßen zu sehen. Ein Augenblick hatte ihr Jauchzen und Singen in Weinen und Klagen, ihr Hoffen auf ein sonniges Lebensglück in Trauer und Oede gewandelt!
Notker tröstete die Jammernde, so gut er es vermochte; dann ordnete er an, daß die Leiche nach dem Kloster gebracht werde, und bald setzte sich der Trauerzug, nur von dem Weinen des armen Mädchens begleitet, nach dem Hause des heiligen Gallus, dem der Todte als Werkmann angehört hatte, in Bewegung.
Noch bis spät in der Nacht saß Notker, der Stammler, in seiner Zelle und dachte nach über das Schreckliche, was er am Tage erlebt, über die Lehre, welche er dadurch empfangen hatte. „Freude und Trauer, Leben und Sterben reichen sich die Hand: mitten im Leben ist der Mensch vom Tod umfangen!“ Also sagte er sich mit tiefernstem Sinnen. Dann ergriff er Pergament und Stift, gab seinen Gedanken Worte, Rhythmus und Töne und schrieb:
„Media vita in morte sumus.
Quem quaerimus adjutorem, nisi te Domine?
Qui pro peccatis nostris juste irasceris,
Sancte Deus, sancte fortis, sancte et misericors salvator:
Amarae morti ne tradas nos.“
Nun malte er über die Worte allerlei seltsame Zeichen, Striche, Punkte, Häkchen und kleine Schnörkel, die damalige Schrift der Noten, Neumen genannt. Er benutzte dazu einzelne Theile eines orientalischen, von der griechischen Kirche der lateinischen übermittelten Gesanges, im 4. Jahrhundert von dem heiligen Ambrosius, Bischof zu Mailand, bei dem Gottesdienste eingeführt, und über das Ganze schrieb er:
Am folgenden Sonntagmorgen, nach dem feierlichen Hochamt, wurden die sterblichen Ueberreste des Verunglückten auf dem stillen Klosterfriedhofe unter Beistand des Abtes und sämmtlicher Mönche des heiligen Gallus zu ewigen Ruhe bestattet. Alle Dienst- und Werkleute des Klosters, alle Bewohner und Bewohnerinnen der Wohnstätten, welche um das Gotteshaus entstanden waren, wie auch die aus Nähe und Ferne Herbeigeeilten, wohnten tief ergriffen der Grablegung bei. Die Mönche intonirten im Chor die von Notker Balbulus in der Nacht gesungene Antiphona de morte. Mit einer Mark und Bein durchdringenden Gewalt wirkten auf die beim Grabe Versammelten die Nothschreie. „Heiliger Herre Gott! Heiliger starker, heiliger und barmherziger Heiland! Laß uns nicht Gewalt anthun des bittern Todes Noth!“ von den Mönchen mit tiefer Ueberzeugung und Ergriffenheit ausgestoßen, und die Menge vermochte nur zagend, mit gedämpfter Stimme das gewohnte „Kyrie eleison, Christe eleison!“ als Antwort hervorzubringen. Wie auf das Volk, so übte der Todtensang auch auf die Mönche eine erschütternde Wirkung aus, und im Innersten ergriffen verließen Alle den Friedhof des heiligen Gallus.
Das „Media vita“ des St. Gallener Mönches sollte noch ganz andere folgenschwere Wirkungen erzielen und die seltsamsten Schicksale erleben. Wie Notker es geahnt und wohl auch bezweckt, hatte das Volk sich des Sanges bemächtigt; er verbreitete sich mit der Zeit immer mehr – durch ganz Deutschland, und wurde ein Schlachtgesang, dem man Wunder-, sogar Zauberkraft zuschrieb. Durch sein Anstimmen vor dem Kampfe sollte der Sieg gebannt werden, und wer ihn zuerst intonire, der sei gefeit, hieb- und stichfest, also glaubte man. Bekannt ist, daß schon 933 bei der Schlacht im Merseburger Lande unter Kaiser Heinrich I. die Priester und Mönche ihn sangen und die deutschen Heerscharen mit dem „Kyrie eleison, Christe eleison!“ die wilden Ungarn schlugen; wie ferner 1233 in dem Kreuzzug wider die armen Stedinger die Priester des Erzbischofs von Bremen sich auf eine Anhöhe stellten und das „Media vita“ intonirten, während die Ritter und Knechte des Bischofs die schuldlosen Feinde, Männer und Frauen, erschlugen. 1315 sangen es die Eidgenossen in der Schlacht am Berge Morgarten wider den Herzog Leopold von Oesterreich (Sohn des erschlagenen Kaisers Albrecht I.), dessen Ritter dabei den Tod auf dem Schlachtfelde fanden, indeß der Herzog sein Leben nur mit Mühe durch die Flucht zu retten vermochte. Dieser Sieg des einfachen Hirtenvolkes über ein Heer von Fürsten und adeligen Herren, damals unfaßbar und wie ein Wunder erscheinend, das nur mit Hilfe eines im Grunde geistlichen Sanges hatte erreicht werden können, sowie der Mißbrauch, der anderwärts mit dem „Media vita“, als vermeintlichem Zaubersang getrieben wurde, mögen wohl die Hauptursache gewesen sein zu dem Beschluß der im Jahre nach der Schlacht 1316, zu Köln abgehaltenen Synode, daß von nun an Niemand die Antiphona des St. Gallener Mönches ohne Erlaubniß seines Bischofs singen dürfe. Doch die Eidgenossen kehrten sich nicht an diesen geistlichen Befehl, oder sie umgingen ihn mit einer naiven Geschicklichkeit, indem sie Notker’s lateinische Verse in ihre deutsche Sprache übersetzten, wodurch der fromme wunderthätige Sang erst recht Gemeingut des Volkes werden mußte.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts entstand diese erste Verdeutschung; sie mag nicht viel anders als die aus dem folgenden 15. Jahrhundert gelautet haben.
„In mittel unsers Lebens zeyt, im tod seind wir umbfangen.
wen suchen wir, der uns Hilffe geyt, von dem wir Huld erlangen?
dann dich Herr alleine,
der du umb unsre missethat rechtlich zürnen thuest.
Heiliger Herre got, heiliger starker got!
Heiliger und barmhertziger, heiligmacher Got!
laß uns nit gewalt thun des bittern todes not!“ –
Mit diesem Sang und „Kyrie eleison!“ griffen 1386 die Schweizer Herzog Leopold III. von Oesterreich, Enkel Kaiser Albrecht’s, bei Sempach an. – Sie hatten sich vorher auf die Kniee geworfen und gebetet. Da sollen mehrere Ritter des Herzogs spöttisch gerufen haben. „Die zagen Leute fallen auf die Kniee und wollen um Gnade bitten!“ worauf ein Klügerer antwortete: „Wohl bitten sie um Gnade, aber nicht uns, sondern Gott, und was das bedeutet, werden wir bald erfahren.“ Und es bedeutete: Sieg den Schweizern, Tod und Untergang dem stolzen Herzog und seiner ganzen glänzenden Ritterschar.
Etwa hundert Jahre später, 1476, im März und Juni, bei Granson und bei Murten, kämpfte das „Media vita“ wiederum mit den Schweizern gegen den mächtigen und prunkliebenden Karl den Kühnen, Herzog von Burgund. Bei Granson verlor der Stolze seine Ehre, bei Murten seine reichste Habe – wie er bald darauf bei Nancy sein Leben verlieren sollte. Ulrich Barnbühel, der Hauptmann und Anführer der Schweizer von St. Gallen in beiden Schlachten, wird wohl nicht der Letzte gewesen sein, der den feierlichen Schlachtgesang seiner engeren Heimath mit einer frommen Begeisterung gesungen.
Am Abend der Schlacht bei Murten erklang auch zu Freiburg das „Media vita“, doch nicht als Schlachtgesang, sondern als [335] wirkliche „Antiphona de morte“. Nach dem Siege hatte ein junger Freiburger die drei Wegestunden, welche Murten von seiner Vaterstadt trennten, in ununterbrochenem Lauf zurückgelegt, um seinen Landsleuten die frohe Kunde zu bringen. Vor dem Stadthause brach er vor Erschöpfung zusammen und vermochte nur noch das Wort „Sieg!“ hervorzustammeln; dann verschied er. Geistlichkeit und Volk sangen dem Wackern tief ergriffen Notker’s Sterbelied; dann erst überließ man sich dem Jubel über die errungene und gesicherte Freiheit. Ein Lindenzweig, den der Bote getragen, wurde an derselben Stelle, wo der Jüngling verschieden, in den Boden gepflanzt; er wuchs zum mächtigen Baume heran, und heute noch grünen die weitausgespannten, von einem Balkengerüst gehaltenen Aeste des vierhundertjährigen morschen Stammes.
Mit dem folgenden Jahrhundert, der Reformation, begann für Notker’s Antiphona eine neue Zeit, ein neues Leben. Luther dichtete das „Media vita“ um, fügte zwei weitere Strophen hinzu, und nun begann es als protestantisches Kirchenlied:
Die Urmelodie, von Notker zu seinen lateinischen Versen in Neumen notirt, hatte schon bei der ersten Verdeutschung der Antiphona eine Umwandlung erfahren müssen. Luther behielt die im 15. Jahrhundert gebräuchliche Weise bei. 1524 erschien sie mit dem Lied in Walther’s Gesangbuch.
Die letzte Umwandlung erfuhr die „Antiphona de morte“ des Mönches von St. Gallen durch unseren Schiller; denn der Gesang der barmherzigen Brüder im „Tell“ am Schluß des vierten Aktes:
„Rasch tritt der Tod den Menschen an –
Es ist ihm keine Frist gegeben“ etc.
ist ja nur eine poetische Umschreibung von Notker’s