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„Fahrende Leute“

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Textdaten
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Autor: O. Justinus
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Titel: „Fahrende Leute“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 484
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[481]

Künstlerleben.
Nach einer Zeichnung von O. Herrfurth.

[484] „Fahrende Leute.“ (Zu dem Bilde S. 481.) So hießen im Mittelalter die umherwandernden Gaukler, Spieler, Sänger, Quacksalber, Tänzerinnen und ähnliches Volk. Völlig rechtlos, waren sie doch vom Volke wohl gelitten, von geistlichen und weltlichen Obrigkeiten vielfach geschützt und in Gnaden aufgenommen. Mancher verlorene Sohn floh zu ihnen, und das Erscheinen ihrer heimathlosen Scharen mit ihrer verlumpten Herrlichkeit, ihrem ungebundenen, genialisch angehauchten Leben steht in einem wunderlichen Gegensatz zu der Philisterhaftigkeit des damals so eng begrenzten bürgerlichen Horizonts.

Das hat sich alles geändert. Die fahrenden Künstler stehen nicht mehr außerhalb des Gesetzes, sie zahlen ihre Gewerbesteuer, und ihr Standplatz wird ihnen polizeilich angewiesen, wenn der Jahrmarkt ihr Publikum vom Lande nach dem Marktflecken zieht. Sie rauben keine Kinder mehr, und kaum mehr wird ein junger Mann aus den höheren Ständen sich unter ihr Dach flüchten, obwohl die Schönheit einer Artistin oder der Schimmer der eigenartigen Freiheit hier und da auf abenteuerlustige Menschen noch einen Reiz ausübt.

Der Maler läßt uns einen Blick hinter die Coulissen einer solchen wandernden Künstlertruppe thun. „Hinter die Coulissen“ ist wohl nicht richtig ausgedrückt. Es ist ein kleines Budenzelt, dessen geflickte Wände sich rechter Hand gegenüber einer Baumallee erheben, und die Artisten stehen, sitzen und liegen in einem durch ihr „Wohnhaus“ und ihren Kunstkarren gebildeten, geschützten Winkelchen auf und neben ihren Requisiten in holder Ungeniertheit herum. Koffer und Körbe liegen im Rasen, und auf dem kleinen eisernen Feldofen brodelt die Mittagsmahlzeit, welche die junge Frau dort soeben zugesetzt hat. Bis das Wasser siedet, bemüht sich ihr Kleinster, die Künstlernatur mit der Muttermilch einzusaugen. Ein allerliebstes nacktes älteres Brüderchen ist trotz seiner Kleinheit Goliath genug, um ein paar Kaninchen in die Flucht zu jagen. Vielleicht haben sie auch den Elefanten zu Gesicht bekommen, und der Schrecken, mit dem einst Pyrrhus den Fabricius einzuschüchtern suchte, ist ihnen in die Glieder gefahren. Mit Unrecht, denn dieser Elefant ist ein sehr harmloser alter Herr, der pater familias, der Vater der Frau und ihrer noch unvermählten Schwester, sowie der beiden zwischen Morgenschläfchen und Neugier kämpfenden Jungen. Der Alte ist zu gymnastischen Kunstleistungen ein bißchen zu steifbeinig geworden und er giebt sich gern zu Arbeiten und Verkleidungen her wie die gegenwärtige, in denen er immer noch seinen Mann stellen kann. Der Schwiegersohn näht ihm eben den zweiten Stoßzahn an, und das Unthier macht bereits ein recht bedeutendes Gesicht. Wenn auch der Neger, über dessen Heimath die Meinungen getheilt sind, seinen breiten Mund grinsend verzieht, auf die Kleine aus dem Nachbarzelt macht das unheimliche Gebilde doch Eindruck, und die Kinder des Städtchens werden mit wonnigem Grauen den Sprüngen zusehen, mit denen der „Elefant von Borneo“ hinter dem Mohren hertraben wird. Der hübschen, kartoffelschälenden ersten Drahtseilläuferin scheint der Kunstschütze aus dem benachbarten wohlhabenderen Geschäft vergeblich die Cour zu machen. Ein Clown, aus dem im Hintergrunde sich erhebenden großen Cirkus, ist ihm mit ernstgemeinten Absichten zuvorgekommen; der Ehekontrakt wird drüben zugleich mit einem Engagementsantrag wohl noch vor Ende des Jahrmarktes fertig gemacht werden. Und das ist ganz gut, denn das junge Mädchen aus dem dritten Wagen, welches dort beschäftigt ist, Tricots und Strümpfe zum Trocknen zu hängen, hat entschieden ältere Rechte an den Kunstschützen, und sie wirft einen Blick voll Besorgniß nach dem Don Juan, dessen Gespräch mit der Nachbarin eine ganz bedenkliche Länge angenommen hat. O. Justinus.