„Der selige Franz“
Wer an einem Frühlingsmorgen zwischen Blumen und Blüthenbäumen, im Kreise seiner Lieben und trauter Freunde, die freien Geistes und frischen Herzens der edlen Schönheit wie dem heiligen Ernst des Lebens huldigen, voll innigen Dankgefühls das Auge zum reinen blauen Himmel erhebend, selig einschlummerte – und plötzlich aufwachte im staubigen Kirchenstuhl einer düsteren Klosterkapelle, Nichts vor Augen, als Glatzen von Mönchen und gebetmurmelnde Gesichter alter Weiber – der würde die Empfindung haben, die uns überkam, als wir den „Bericht über das Jahr 1863, das neunundzwanzigste Jahr der Wirksamkeit des Vereins für die sieben Goßner’schen Klein-Kinder-Bewahranstalten etc. in Berlin“ gelesen hatten.
So viel uns auch die Kunst Bilder krankhafter Frömmelei darstellt und wie oft wir sie im Leben belauschen können, so ist unseres Wissens doch noch nie das heuchlerische Spiel mit dem jedem Herzen Heiligsten in widerlicherer Weise getrieben worden, als es in diesem „Berichte“, namentlich aber in der ihm eingewebten Erzählung von dem „seligen Franz“ uns entgegentritt. Wir müssen unser Auge dazu hergeben, zu sehen, wie ein argloses Kind von seinem dritten bis zum sechsten Jahre zur Caricatur eines Glaubensmusters verkrüppelt wird, wie das arme Kind Nichts mehr anders denkt und spricht, als in biblischer Redeweise, wie seine Phantasie ganz erfüllt ist mit allen möglichen biblischen Gestalten, und wie in den Eltern dieses Kindes sogar das jedem Wesen natürlichste Gefühl der Elternliebe zusammenschrumpft in den affectirten und kühlen Ausdruck blinder Hingebung an Glaubenssatzungen, mit denen sie noch am Sterbebett des Kindes sich wahrhaft herzlos zu trösten wissen.
Doch – wir wollen den Leser nicht länger abhalten, mit den eigenen Augen den traurigen Irrpfad solcher Frömmelei zu verfolgen, und überlassen seinem eigenen Herzen den Urtheilsspruch über das nachfolgende Resultat derselben.
„Liebe Mama!“ sagte der kleine, beinahe sechs Jahre alte Franz recht freudig, als er an einem Montag Morgen erwachte, „weißt Du, was ich gern möchte?“
Seine Mutter fragte: „Nun liebes Fränzchen, was möchtest Du denn gerne? willst Du Deinen Kaffee mit Zwieback?“ und als er es verneinte, fragte sie ihn weiter: „Willst Du ein Bild oder einen Wagen, oder etwas anderes Schönes zum Spielen?“
„Nein, liebe Mama,“ sagte er glücklich lächelnd, „das Alles nicht, ich wünsche etwas viel Schöneres,“ und dann zeigte er mit seinen kleinen Händchen nach dem Himmel und sagte: „Da, ich möchte sterben!“
„Aber liebes Fränzchen,“ sagte seine Mutter mit Wehmuth, „warum willst Du denn Deine Mama, Deinen Papa, Dein Brüderchen und Schwesterchen verlassen, warum willst Du denn sterben?“
„Ich will beim Herrn Jesu, bei den lieben Engelein, bei meiner Großmama und bei den seligen Kinderchen sein,“ (die er alle nannte) und dabei blieb er auch, trotz alles Redens.
„Das ist sehr sonderbar,“ dachte seine Mutter und auch sein Vater. Fränzchen war etwas kränklich, er hatte einen bösen Husten, aber wir meinten, es habe nichts zu bedeuten, und er war bis zu diesem Montag immer noch herausgegangen, ja auch in der Spielschule gewesen. Er war in der vorherigen Woche mit seiner Mutter zum Besuch bei seiner Tante gewesen, hatte sich unterwegs etwas erhitzt und wahrscheinlich auch erkältet; das schien die sichtbare Ursache der Krankheit zu sein; die unsichtbare Ursache aber war der Wille seines Heilandes, der sich an dem lieben Fränzchen schon früh verherrlicht hatte.
[362] Schon im Alter von drei Jahren brachte ich ihn nach einer Spielschule, und zwar nach der hiesigen Mägdeherberge. Da gefiel es Fränzchen auch sehr gut; der Umgang mit den lieben kleinen Kindern, das Spielen dort und seine liebe Lehrerin Clara machten ihm recht viele Freude; des Morgens brachte ich ihn hin und Nachmittags holte ich ihn in der Regel ab, sein Mittagbrod aß er in der Herberge. Die ersten Sprüche, die er lernte, waren: „Wer da glaubet und getauft wird etc.“ und: „Gehet hin in alle Welt etc.“ Diese beiden Sprüche wurden sein ganzes Leben, es bewegte sich dasselbe in diesen Sprüchen; ich fragte ihn öfter: „Fränzchen, hast Du den Herrn Jesum lieb?“
„Ja, lieber Papa!“ sagte er.
„Warum hast Du Ihn denn lieb?“ fragte ich weiter, dann antwortete er:
„Weil Er mein lieber Heiland ist.“
Darauf fragte ich: „Warum ist Er denn Dein lieber Heiland?“
„Weil Er mir meine Sünden vergiebt,“ war seine Antwort; und wenn ich dann noch fragte:
„Hat der liebe Heiland Dir denn schon Sünden vergeben?“ so sagte er: „O ja! in der Taufe hat Er mich zu Seinem lieben Kinde gemacht, und wenn ich unartig bin, dann bete ich, und dann vergiebt Er mir wieder.“
Später brachte ich Fränzchen in eine Spielschule, die in der Stadt ist, und da hat er sehr viel Schönes gelernt durch seinen Lehrer, vom lieben Herrn Jesus sowohl, als auch von den lieben Engelein, von Adam und Eva, von Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und seinen Brudern, von Saul und David, von Daniel und den lieben Aposteln, ja auch vom bösen Feinde, vom Teufel. Den letzteren und die Hölle fürchtete er, sonst hatte er gar keine Furcht, er ging im Finstern, wohin er geschickt wurde, und lachte sein kleines Brüderchen immer aus, das sich vor dem Schornsteinfeger und im Finstern fürchtete. Als er zusammenhängend sprechen lernte, war sein Erstes das Gebet. Als ich ihm einst sagte: „Liebes Fränzchen, Du mußt immer nur um den heiligen Geist bitten,“ da wurde der Grundzug seiner Bitte, die er knieend verrichtete: „lieber Herr Jesu, vergieb mir doch alle meine Unartigkeit, schenke mir doch ein reines Herz und Deinen heiligen Geist!“ Des Abends bat er mir dann auch alle Unarten ab und ich sagte nun zu ihm: „Ich vergebe Dir!“ damit er dem Worte glauben lernen sollte.
Nach dem Morgen- und Abendgebet der Kinder pflegte ich stets die Kinder, wie ich das von einer frommen Wittwe gelesen und gelernt, zu segnen. Dieser Segen war ihm zum Bedürfniß geworden. Selbst in dem Falle, wo ich beim Schlafengehen der Kinder nicht zugegen war, sagte er stets wiederholt zu seiner Mutter: „Liebe Mama, sage doch dem Papa, er soll nicht vergessen mich zu segnen.“ Wenn er in’s Bett gestiegen war, so hatte er noch zwei Bitten an seinen lieben Heiland: „Lieber Herr Jesu,“ betete er, „laß mich doch nicht das Bett verunreinigen;“ und dann: „lieber Herr Jesu, schick’ mir jetzt doch die Engelein und laß mich einschlafen.“ Sein kleines Brüderchen ist träger zum Beten und Fränzchen gab sich viel Mühe, ihn zu belehren: „Rudolph,“ sagte er, „erst mußt Du beten, ehe Du Deinen Kaffee trinkst oder die Schrippe issest,“ und wenn Rudolph noch nicht wollte, so sagte er ihm, wie auch bei anderer Gelegenheit, wenn er unartig war: „Jetzt ist der böse Feind in Dir, wenn Du nicht betest und unartig bist, da kommst Du in die Hölle, wenn Du aber betest, dann ist der liebe Herr Jesus in Dir und die lieben Engel freuen sich.“ Und das sagte er so ernsthaft und entschieden, daß ich oft erstaunt war. Wenn aber Rudolph dennoch nicht hören wollte, so klagte er ihn bei mir an. Sobald Jemand krank wurde, oder er hörte und sah, daß Jemand etwas that, was ihm nicht recht dünkte, da knieete er bald nieder und betete für ihn, und that das alle Tage, bis ich sagte: „Nun ist es genug.“ Bei all’ seinem Gebet war er der unbedingten Erhörung gewiß. Wenn er vom Gebet aufgestanden war, dann sagte er sehr oft: „Nun hilft der liebe Herr Jesus; wenn ich Amen sage, dann sagt er auch Amen.“ Und wenn er wegen seines Gebets verspottet wurde, was auch geschah, so war er sehr empört darüber, daß man sagte, der Herr Jesus helfe uns doch nicht.
Doch sollt ihr, lieben Leser, ja nicht denken, daß Fränzchen nicht auch seinen alten Adam an sich hatte, der trat auch manchmal hervor und hat die Ruthe bekommen müssen, und Fränzchen war lieber und eher geneigt, dem Herrn seine Unartigkeit abzubitten, als seinen Eltern, und hat dieserwegen manchmal Strafe erhalten müssen, damit er es lerne, auch Menschen um Vergebung zu bitten. Seine Strafe nahm er sehr oft geduldig an und ist dieserhalb anderen lieben Gotteskindern zum Segen geworden, welche sahen, mit welcher Willigkeit er mir seine Hand zur Bestrafung hinreichte, mit der er eine Unart begangen hatte. Im vorigen Jahre ereignete es sich einmal, daß, als Franz und sein Brüderchen Rudolph zu Bette gegangen waren, der Letztere, welcher ein sehr unruhiges Kind ist, wiederholt unartig war; ich verbot es ihm; als er aber nicht von seiner Unart ließ, ging ich nach der finstern Stube an das Bette der Kinder und züchtigte das Kind, welches an der Stelle lag, wo Rudolph zu liegen pflegte. Das gezüchtigte Kind gab aber keinen Laut von sich und das fiel mir dermaßen auf, daß ich Licht nahm, um es zu sehen. Doch wie erstaunte ich, als ich bemerkte, daß ich statt des Rudolph den Franz geschlagen hatte, der sonderbarer Weise mit Rudolph seinen Platz gewechselt hatte. Mein Erstaunen steigerte sich zu einem unbeschreiblichen Mitgefühl, als ich das unschuldig geschlagene Kind sah, welches, ohne sich zu beklagen, mit sanftmüthigen Augen mich ansah und still und ruhig sagte: „Lieber Papa, Du dachtest wohl, es ist Rudolph.“ So manch’ liebes Gotteskind hat im Stillen gleich den Eltern dem Herrn für die Gnade gedankt, die Er dem Franz gegeben, denn sein ganzes Leben war größtentheils ein gar liebliches, er bestrebte sich artig zu sein und sagte oft: „Lieber Papa, ich möchte gerne sehr artig sein.“
Aber auch der zweite Spruch, den Fränzchen zuerst gelernt hatte: „Gehet hin in alle Welt etc.“ hatte bei ihm Frucht geschafft; er hatte Missionssinn und wollte selbst Missionar werden. Wenn man ihn, von den Gefahren erzählte, denen die Missionare ausgesetzt sind, so entfiel ihm der Muth; wenn man ihm aber sagte: „Der Herr Jesus hat aber befohlen, daß den armen Heiden Sein Wort soll bekannt gemacht werden, und Er schützt auch alle Seine Kinder,“ so sagte er in seiner Einfalt: „Dann will ich doch hingehen.“
Als nun an jenem Montag Morgen mein Fränzchen die oben gesagte Rede mit uns gehabt, dachten wir bald nicht mehr daran, ließen ihn aber im Bette bleiben; aber am Abend wurde sein Husten bedenklicher und sein Athem kürzer. Da legten wir ihm dann einen Senfteig und gaben ihm Thee, den Herrn bittend, Er wolle die Arzenei segnen. Aber Dienstag früh sah es mit Fränzchen noch schlimmer aus; der Doctor wurde geholt, der verschrieb ihm viel Arzenei und sagte, er habe die Halsbräune. Nun mußte er viel aushalten. Tag und Nacht bekam er heiße Umschläge um den Hals und zwar so sehr oft, daß er gar nicht schlafen konnte und immer bat, wir sollten ihn doch nur schlafen lassen; doch da war nicht zu helfen, wir mußten den Anordnungen des Arztes um des Herrn willen Folge leisten. Fränzchens Mutter wurde am Dienstag Abend vom Herrn schon darauf vorbereitet, was Er mit demselben vorhatte; sie schlug in Bogatzky’s Schatzkästlein den Abendspruch vom 6. März auf. (Wer das Büchlein hat, lese ihn.)
Am Freitag früh hatte die Krankheit sich so sehr verschlimmert, daß in Eile ein zweiter Arzt geholt werden mußte. Fränzchen lag fast im Sterben; da sagte der Arzt, es bliebe nur noch eine Operation übrig, und willig gaben wir uns auch hierbei in des Herrn Hand. Ich packte ihn warm ein, nahm ihn auf den Arm und trug ihn in einen Wagen, der uns nach dem Klinikum fuhr, und dort wurde dem lieben Kinde ein kleines Loch in den Hals geschnitten und dann eine silberne Röhre eingesetzt, da athmete er dann wieder ruhig, nahm auch Milch zu sich und wollte sogar essen, so daß es schien, als wolle der Herr ihn wieder gesund werden lassen.
Seitdem die Röhre eingesetzt war, konnte er nicht mehr laut sprechen, sondern mußte zu erkennen geben, daß er etwas wolle: dann mußten wir errathen, was er wollte, er bejahte oder verneinte durch Zeichen. Als er noch sprechen konnte, hat er öfter wiederholt, er wolle sterben, auf daß seine Seele in den Himmel käme. Seine Leiden, die nicht gering waren, ertrug er mit einer großen Geduld, wodurch die Aerzte und die im Krankenzimmer Anwesenden in Erstaunen gesetzt wurden. Sein Papa und seine Mama waren abwechselnd Tag und Nacht bei ihm. Viele Gotteskinder haben ihre Gebete mit denen der Eltern vereinigt und dem lieben Heiland das Kind recht an’s Herz gelegt; aber es wurde nicht um unbedingte Herstellung gebetet, sondern, [363] da die Seele des Kindes gerettet war, weil er getaufet war und glaubte, die Hülfe des Herrn Barmherzigkeit und Weisheit überlassen. Am Montage zeigte ich ihm einen blanken Thaler mit dem Bildnisse des seligen Königs Friedrich Wilhelm’s des Vierten; er gab zu erkennen, daß er sich sowohl über den Thaler, als auch über das Bildnis des Königs freue, denn für den seligen König hatte er täglich gebetet; ich sagte: „Fränzchen, möchtest Du den Thaler behalten?“ da nickte er freundlich; ich fragte weiter: „Willst Du ihn verschenken?“ da machte er eine Gebehrde des Verneinens; als ich aber fragte: „Willst Du nicht den Thaler den armen Heidenkindern in China schenken?“ da machte er eine Gebehrde der freudigen Zustimmung.
Beim Einnehmen der Arzeneien durfte man ihm nicht sagen, daß er dadurch gesund werden würde; darüber wurde er widerwillig: nur aus Gehorsam gegen den Herrn Jesum, die Aerzte oder seine Eltern nahm er, was ihm verordnet wurde.
Am Dienstag Vormittag, also am neunten Tage nach seiner zuerst ausgesprochenen Sehnsucht nach den Himmel, wurde wider alles Vermuthen sein Zustand äußerst bedenklich; die Aerzte sahen sein Ende kommen, eine Lungenentzündung war noch hinzugetreten; ich aber sah im Glauben den Engelwagen kommen und sagte noch kurz vor seinem seligen Hinscheiden: „Liebes Fränzchen, sollen nun die Engelchen kommen und Dich zum Herrn Jesu bringen?“ Da nickte er getrost, und dann sagte ich noch: „Nun werden sie bald kommen, dann wirst Du mit ihnen hinaufeilen und den lieben Herrn Jesus und Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und seine Brüder, sowie David und alle heiligen Apostel sehen, willst Du das?“ Da gab er auch seine Zustimmung. Der Herr erhörte meine Bitte und verkürzte die Zeit des Leidens; um halb zwei Uhr Nachmittags hauchte er unter meinen Gebeten seine Seele aus und der Glaube sah sie hinweggeführt von den Engeln in des Heilands Schooß.
Unser Schmerz ist groß, aber des Herrn Trost ist noch größer. Den blanken Thaler und Fränzchens Ersparnisse händigte ich als Erbschaft dem Frauen-Missions-Verein für China ein.
Das ist die Frömmler-Geschichte eines sterbenden Kindes! – Der Bericht über die sieben Klein-Kinder-Bewahranstalten stellt dieses Kind als ein solches hin, an welchem „die Wirkungen göttlicher Gnade“ sich am glänzendsten erwiesen. Und doch wollen die Vorstände eine dieser Anstalten schließen wegen der gegenwärtig sehr traurigen äußeren Lage des Vereins. Man höre! „Schon der letzte Bericht wies stillschweigend ein Deficit von über 3 Thalern nach, und dieses zu decken, hat uns trotz aller Einschränkungen nicht gelingen wollen, ja es ist jetzt bis auf 101 Thlr. 24 Sgr. 10 Pfge. herangewachsen. Dieser Umstand erfüllt uns besonders mit Kümmerniß, weil wir ohne des Herrn außerordentliche Hülfe etc... Wir bitten daher alle theuren Kinderfreunde, mit uns den Herrn anzurufen, daß Er uns aus dieser Noth und Bedrängniß in Gnaden retten wolle.“ Und wer sind die armen Hülflosen – denn solche können es doch nur sein – die so jämmerlich wegen eines solchen Deficits zum Himmel schreien? Neben sechs Predigern und Pastoren, vier Baroninnen, einer Gräfin auch der Oberst v. Ollech, der Commandeur des Berliner Cadettencorps, und Staatsminister a. D. v. Uhden, einst die höchste Gerichtsperson Preußens.