„Bedaure, Alles besetzt!“
[639] „Bedaure, Alles besetzt!“ Es war Herbstmesse in Frankfurt a. M. und wunderschönes Herbstwetter dazu. Ein Doppelstrom von Geschäftsleuten und Touristen aller Zungen ergoß sich über die Stadt und stieg, Alles überschwemmend, bis zu den höchsten Mansarden der Gasthöfe hinauf.
Arme Menschenkinder, die verspätet mit dem letzten Bahnzuge ankommen und nun, im sichern Hafen sich wähnend, einem gastlichen Nachtlager sich entgegenfreuen! Droschken genug, die von dem Bahnhof zur Stadt führen, aber vor allen Gasthäusern das leidige Wort: „Bedaure, Alles besetzt!“ Immer weiter fährt die müde Droschke; in dunkeln Nebengäßchen, vor den schlechtesten Herbergen bettelt der stolze Kleinbürger, den sie führt, mit verhaltenem Grimme um Einlaß, und auch hier überall abgewiesen, lenkt er endlich mit verzweifeltem Muthe die Fahrt nach den vornehmsten Hotels. Aber Alles ist vergeblich! Schon verlöschen hie und da die Lichter in den Häusern. Die trostlose Aussicht, auf dem Pflaster oder einer Bank der Promenade übernachten zu müssen, wird zum fürchterlichen Ernst.
Auf einer solchen Fahrt landet spät Abends ein Fuhrwerk vor dem *** Hofe. Eine armselige Droschke vor dem Hotel der Kaiser und Könige! Der goldbetreßte Portier, der im Thore steht, macht mit dem schweren, silbernen Knopfe seines Stabes eine vornehm abweisende Bewegung. Aber der Kutscher steigt ab und öffnet den Schlag: „Thun’s gefälligst aussteigen, ’s Thier kann nich weiter: dritthalb Stunden, drei Personen, zwei Koffer, mit Laterngeld, thut drei Gulden vierundzwanzig Kreuzer zusammen!“ Und die Insassen steigen wirklich aus: ein ansehnlicher Herr mit kurzgeschnittenem, weißem Haar und weißer Cravatte, eine stattliche Frau, ein blühendes Töchterlein, nach Accent und Wesen ehrsame Holländer.[1]
Der Portier tritt entrüstet zwei Schritte vor und ruft sein „Alles besetzt!“ Allein die Koffer werden auf’s Pflaster gesetzt. Es kommen kleine und große Kellner mit weißen Servietten unter dem Arm und schnarren ihr „Alles besetzt!“ Aber der Alte zählt gelassen aus seiner Börse Kreuzer um Kreuzer hervor und mit der entschlossenen Miene eines Feldherrn, der im Angesicht des Feindes die eigenen Schiffe hinter sich verbrennt, lohnt er die Droschke ab. In ängstlicher Verlegenheit, halb unbewußt, mustert inzwischen die Frau die prachtvollen Säulen des glänzend erleuchteten Portals, während das Töchterlein hinter einer derselben ein wunderliebliches Kinderköpfchen entdeckt und fröhlich zu ihm niederkauert, es auf die blond gelockte Stirn küßt und dem herzigen Wesen kosend einen Blumenstrauß aus den Biebericher Gärten in den Gürtel steckt.
Da naht, zur Hülfe gerufen, die höchste Autorität des Hauses, der Oberkellner selbst, und das andere Dienstvolk schweigt, während er mit nachdrucksvoller Würde spricht: „Muß wirklich sehr bedauern, mein Herr, aber wir haben in der That auch nicht ein Zimmer mehr freil“
„Ja wohl,“ dehnt der Gelassene, „das haben mir ja alle die Herren da schon genug gesagt. Sprechen wir nicht mehr davon! Aber eine Tasse Thee,“ sagt er lächelnd, „eine Tasse Thee wird ja doch wohl noch im *** Hofe zu haben sein, nicht wahr? Portier, bitte, lassen Sie mein Gepäck einstweilen im Hofe einstellen! Das Gastzimmer ist ja wohl hier rechts?“
„Zu dienen, mein Herr!“
Sie treten in das Gastzimmer. „Bitte, Kellner, drei Portionen Thee!“
Der Thee wird langsam geschlürft. Die Menge der Gäste beginnt sich zu lichten. Ein Sopha wird frei, und wie der Belagerer auf eine verlassene Schanze des Feindes, so schreitet der Holländer auf das freie Polster zu. Rechts und links in die Ecke postiren sich Mann und Frau und auf einem Sessel daneben nimmt das Töchterlein Platz. „Nun sitzet fest,“ flüstert er, „auf die Straße hinaus wird man uns nicht weisen!“ Und siegesgewiß ruft er den Kellner. „Drei Portionen Beefsteak mit Salat und eine Flasche Bordeaux, wenn ich bitten darf.“
„Sogleich, mein Herr!“
Noch immer gehen Gäste, Herren und Damen, ab und zu. Auch das schelmische Blondköpfchen schielt zur Thür herein und eine jugendliche Frauengestalt, die es an der Hand führt, wirft lächelnd einen langen Blick auf die holländische Gruppe.
Endlich ist das Abendessen verzehrt, die Flasche ausgetrunken, das Gastzimmer geleert und nur noch spärlich erleuchtet. Der Holländer zündet eben die dritte Havanna an und beginnt dieselbe Zeitung zum dritten Mal zu lesen; die Frau hat das bürgerliche Strickzeug hervorgeholt und nickt nach jeder zehnten Masche ein; das muntere Kind im Sessel aber ist schon lang entschlafen.
Der schläfrige Kellner dreht die vorletzte Gaslampe zu. „Bitte, geniren Sie sich nicht,“ sagt der Alte, „löschen Sie auch die letzte aus!“
Da tritt ein zweiter Kellner ein: „Ein Zimmer mit Cabinet, mein Herr, wenn Ihnen gefällig ist?“
Der Kellner leuchtet vor, öffnet eine Treppe hoch ein Zimmer, setzt die siibernen Armleuchter auf den Tisch: „Noch Etwas zu befehlen, mein Herr?“
„Morgen um acht Uhr Chocolade im Gastzimmer und um neun Uhr eine Droschke nach dem Main-Neckar-Bahnhof,“ befiehlt der Herr in vornehm gestimmtem Ton.
Die Erlösten sehen sich um in dem Asyl, das sie so unerwartet gefunden. „Ein wahres Königszimmer,“ sagt der Alte, „wahrhaftig Oelgemälde aus bester Schule, Statuetten vom reinsten Marmor, prachtvolle exotische Gewächse und Meubles, so geschmackvoll, wie im Schlosse von Laeken!“
„Und die kostbaren Albums hier auf dem Tische,“ ruft das Töchterlein, „die allerliebsten Nippsachen, die schweren, seidenen Vorhänge, die Teppiche, ach, und seht nur hier heraus, das reizende Cabinet!“
„Ja, ja, ein wahres Königszimmer,“ seufzt die Mutter, „und wird auch schon die Zeche darnach sein! Weißt Du nicht, wie unser Präsident uns gewarnt hat? Auf zwei Nächte und einen Tag hat er für sich mit Frau und Zofe zweiundneunzig Gulden zahlen müssen und hat gewiß nicht so prachtvoll gewohnt!“
„Immer besser, als auf der Straße campiren,“ sagt der Alte, „wollen froh sein, daß meine List gelungen ist! Laßt uns zu Bett gehen! Wir werden gut schlafen!“
Und sie schlafen vortrefflich und die Chocolade, die sie am nächsten Morgen im Gastzimmer einnehmen, ist köstlich. Das Töchterlein mustert neugierig die Zeil, auf der die glänzenden Läden sich öffnen, und die sorgliche Mutter berechnet gutachtlich im Stillen die Zeche. Bis zu etwa einunddreißig Gulden hat sie es gebracht und strickt seufzend mit erneuter Energie, als ob sie die Rechnung noch schnell abverdienen wollte. Da dehnt endlich der Alte das schwere Wort heraus: „Bitte, Kellner, die Rechnung!“
„Drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer, mein Herr!“
„Bitte, wie viel?“ fragt der Holländer zweifelnd.
„Drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer, mein Herr!“
Der Holländer öffnet seine Börse und schließt sie wieder. Er nimmt aus seiner Tabatière eine gewaltige Prise und schlürft sie mit lauten Zügen ein, stäubt mit dem seidenen Taschentuche die entfallenen Körnchen säuberlich vom blüthenweißen Hemde ab und spricht endlich lächelnd mit dem Selbstbewußtsein eines ehrlichen Mannes: „Aber, bester Garçon, Sie irren sich wohl! Drei Portionen Thee, drei Beefsteaks mit Salat, eine Flasche Bordeaux, drei Chocoladen mit Backwerk und Logement und drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer? Nein, nein, das ist wohl nicht möglich!“
„Erlauben, mein Herr, werde den Oberkellner fragen!“
Und der Oberkellner in eigner Person erscheint. „Habe sehr um Entschuldigung zu bitten, mein Herr! Es ist eine unverzeihliche Verwechselung vorgegangen; die Rechnung ist für jenen Herrn im Nebenzimmer, der eben im Vorübergehen mit seinen Damen eine Chocolade eingenommen hat.“
„Ja. ja, habe mir so Etwas denken können. Aber bitte nun, was habe ich zu zahlen? Ich brauche keine schriftliche Rechnung.“
„Aber, mein Herr, Sie erinnern sich doch, daß ich gestern in der Nothwendigkeit war, Sie abzuweisen, daß wir keinen Platz –“
„Freilich, freilich, Bester! Hab’s genug gehört, bin aber erfahren in solchen Dingen, kenn’ es, wie die Herren Portiers und Oberkellner Ausflüchte [640] machen, wenn eine arme Droschke anfährt; weiß wohl, bin etwas zudringlich gewesen, aber so was hilft; nehmen Sie’s nicht übel. Sie haben sich und mir vortrefflich aus der Verlegenheit geholfen! Bin Ihnen dankbar, wahrhaftig, ja!“
Der Oberkellner sah den Fremden mit stolzen Blicken an und sagte mit Nachdruck: „Die Portiers und Kellner im *** Hof machen keine Ausflüchte, mein Herr; sie lassen keinen Menschen auf der Straße schlafen, so lange noch ein Winkelchen im Hotel zum Uebernachten frei ist.“
„Nun gut, gut, wollen nicht streiten! ’s war ein süperbes Winkelchen, das Sie noch frei hatten. Wußte wohl, daß sich’s so finden würde, bin ein alter Prakticus. Aber bitte nun, die Rechnung!“
Wieder warf der Oberkellner dem Fremden einen stolzen Blick zu: „Die Rechnung, mein Herr? Sie haben Nichts zu bezahlen!“
Jetzt war es mit der Gelassenheit des holländischen Phlegma zu Ende: „Wa – wa – wie? Nichts zu bezahlen ? Herr, das ist zum Lachen! Fürstlich gelebt und königlich gewohnt, und Nichts bezahlen? Nein, Herr, ich habe keine Zeit und Lust zu Späßen! Ich bitte, die Rechnung!“
„Mein Herr, ich hatte schon drei Mal die Ehre, Ihnen zu versichern, daß wir keinen Platz für Sie hatten. Sie sind abgewiesen im *** Hof, und unser Hotel hat nichts mit Ihrer Zahlung zu schaffen. Und in der That, verzeihen Sie, ich finde es fast unzart, daß Sie in dieser Weise Rechnung fordern. Oder sollten Sie wirklich nicht wissen, wo Sie logirt haben?“
„Nun zum Henker, im *** Hof!“
„Mein Herr, aus einem Sopha des *** Hofs hatten Sie sich Quartier gemacht, und ich würde Sie nicht davon vertrieben haben. Aber Ihr Nachtlager verdanken Sie nicht unserm Hotel, sondern – mein Gott, wissen Sie denn das nicht? Unser gütiges Fräulein hat Ihre Verlegenheit bemerkt, und sie, ja, mein Herr, die Tochter den Hauses selbst hat ihr eigenes Zimmer und Cabinet Ihnen abgetreten, und das begreifen Sie doch wohl, daß wir von Gästen unseres Fräuleins nun und nimmer Zahlung annehmen können.“
„Aber Bester, Liebster, ich bitte Sie! Ihr gütiges Fräulein hat uns ihr Zimmer eingeräumt? Das ist ja eine ganz merkwürdige Geschichte, ja höchst merkwürdig und außerordentlich liebenswürdig! Aber in der That, ich bin in Verlegenheit; ich kann doch nicht fortgehen, wie ein Eindringling, ohne zu zahlen!“
„Läßt sich nicht ändern, mein Herr!“
„Aber ich bitte Sie, Verehrtester, kann denn nicht wenigstens ich und Madame dem Fräulein Aufwartung machen und Dank sagen?“
„Fräulein wird bedauern, sie hat eben kein Empfangzimmer zur Verfügung!“
„Aber dem Herrn des Hauses, ich bitte Sie, Ihrem Herrn werde ich doch einen Besuch machen dürfen?“
„Der Herr wird bedauern, er macht eben seinen Morgenspazierritt!“[AU 1]
„Aber mein Gott, Bester, das ist ja verzweifelt! Ich muß mich doch wenigstens bei Jemandem bedanken können! Oder, lieber Herr, bitte, bitte, danken Sie in meinem Namen und im Namen von Madame und im Namen meiner Tochter, bitte, bitte!“ Und dabei sucht er in kleinlauter Verlegenheit dem Kellner ein Goldstück in die Hand zu drücken.
Mit einer vornehmen Verbeugung tritt dieser zurück: „Mein Herr, von Gästen unseren Fräuleins nimmt kein Diener des *** Hofs ein Trinkgeld an. Uebrigens steht eine Equipage des Hotels mit Ihrem Gepäck vor dem Hause bereit. Reisen Sie glücklich, mein Herr!“
Die Ausgewiesenen gehen zum Wagen und bemerken mit Beschämung, wie auch nicht ein trinkgeldlustiger Kellner und Hausknecht sich sehen läßt. Sie steigen ein und der Lakai schließt den Schlag. Da springt mit strahlender Freude das liebliche Lockenköpfchen von gestern herbei, reicht ein wundervolles Bouquet in den Wagen und flüstert: „Schwester Sannchen läßt das freundliche Fräulein grüßen!“
„Main-Neckar-Bahnhof im Trab!“ ruft der Lakai, indem er sich auf seinen Sitz schwingt. Die Rappen ziehen an, das Kind winkt mit der Hand ein Lebewohl!
War vielleicht der kleine Engel es gewesen, der mit seiner Bitte den Fremden ein Asyl geöffnet hatte? Wie dem auch sein mochte, die Ehre des Hotels war gewahrt. Es hatte Gastfreundschaft in zartester Weise geübt und lieber selbst die Zeche gezahlt, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, daß es unter falschem Vorwand die Gastfreundschaft versagt habe.
Die alte holländische Notabilität zählt diesen Liebesdienst zu den freundlichsten Erinnerungen ihren Lebens.
- ↑ Der Name des Mannes hat einen ehrenvollen Klang weit über die Grenzen seines Landes hinaus, soll aber hier, wo wir den würdigen Herrn in wenig beneidenswerther Verlegenheit erblicken, nicht genannt werden.
Anmerkungen des Autors
- ↑ Da ich mich scheuen muß, die bescheidene Tochter in die Zeitung zu bringen, so darf ich auch den Namen des ehrenwerthen Vaters nicht nennen. Der geneigte Leser, der auf Personalien erpicht ist, mag in den reizenden Villen der freien Stadt sich umthun, vielleicht findet er diejenige heraus, in welcher jetzt der ehemalige Gastwirth der Kaiser und Könige in wohlverdienter Ruhe lebt.