Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang | |
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besitzen. Wir haben gegenwärtig zwei sehr tief ausholende Studien zur südslavischen Volkskunde in Arbeit: eine über das Lebensende oder die Totengebräuche und eine andere über Volksmedizin. Die von uns aufgespeicherten Materialien sind sehr umfangreich und besonders geeignet, bedeutsame Momente des Volks- und Völkerlebens zu erhellen.
Als eine kleine Probe von dem, was wir in dem Werke über das Lebensende zu bieten haben, möchten wir diesen Beitrag vor allem betrachtet wissen,
Wie es schon die von uns gewählte Aufschrift andeutet, handelt es sich im vorliegenden Liede um die Sühnung eines greulichen Frevels. Die Geschichte spielte sich vor etwa zweihundertundfünfzig Jahren in dem derzeit ganz verkarsteten Hochlande der Lika ab, wo die wild zerklüfteten Berge gegen das kroatische Küstenland steil abfallend, einst als natürliche, schier unüberwindliche Grenze das mohammedanische Element vom abendländischen Christentum ferne hielten. Ganz ferne wohl nicht; denn hüben und drüben der Grenze hauste ein hartes, der Abstammung und der Sprache nach zwar einiges, doch dem Glauben und der politischen Zugehörigkeit nach einander unerbittlich feindseliges Geschlecht. Mochte die Türkei immerhin mit den christlichen Nachbarstaaten Frieden halten wollen, dort in jenem, damals noch mit dichten Urwaldbeständen bedeckten Dinaralpen gab es keinen Frieden, weder im Leben noch im Tode. Es lässt sich kaum entscheiden, wem in entsetzlicher Grausamkeit und Roheit zu jener Zeit der Vortritt gebührte, dem Mohammedaner oder dem Christen. Beide waren einander wert und würdig. Doch würde man irre gehen, wollte man jenen Kämpen, die sich Helden und Ritter nannten, alle Regungen edlerer Menschlichkeit absprechen. Es finden sich im Gegenteil gerade bei jenen Kämpfern viele wunderherrliche Züge von hoher Auffassung menschlicher Würde und Ehre, und man stösst überall auf eine merkwürdige Hochhaltung und Schätzung alter Sitten und Gebräuche, auf eine festgefugte gesellschaftliche Ordnung inmitten scheinbar wüster Willkürlichkeiten. Auch das Faustrecht und die ungezügelte Leidenschaft müssen vor bestimmten Satzungen des Gefühlslebens gewisse Schranken einhalten. Wer sich darüber hinwegsetzt, setzt sich dem unentrinnbaren Verderben aus.
Hauptmann Gavran (Rabe), der rachgierige Christ, der das Grab seines toten Feindes, des im Kunarhochgebirge gefallenen und dort bestat- teten Mohammedaners Halil Bojičić schändet, Mustapha Hasenscharte (Hrnjica) und sein Bruder Halil, der Falke, sind unzählig oft genannte, gepriesene und verdammte Helden der Guslarenlieder. Es sind hervorstechende Typen, auf die man im Laufe der Zeiten alle mögliche Helden- und Schandthaten gehäuft, je nachdem ein Mohammedaner oder ein Christ von ihnen singt und sagt. Der Vorfall, den unser Lied erzählt, mag sich in jenen Zeiten nicht bloss einmal wirklich zugetragen haben; es ist leicht möglich, dass Halil in der That einem Grabschänder in der Weise, wie das Lied es berichtet, das Handwerk gelegt hat; es stimmt ja dieser Zug so trefflich zu dem Charakter des Helden, wie er sonst auftritt. Ein tapferer Ritter ohne Furcht und Tadel ist Halil; sowie sein älterer Bruder Mustapha, der ihn grossgezogen, kalt abwägend und berechnend, mutig und verständig ist, ist Halil ein verwegener Heissporn ohne Ruhe und Überlegung.
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_272.png&oldid=- (Version vom 19.7.2023)