„Hoho!“ rief er und riß ihr das Tuch vom Kopfe und den Mantel von den Schultern. „Die anderen sind uns entwischt, aber wir kommen nicht leer heim. Hier Freunde, fangt die schwarze Taube!“ Er drängte Margarete, die ihre Herrin schützen wollte, zurück und faßte rauh Mirjams Hände. Zitternd stand das schöne Mädchen unter der wilden Horde, und seine schönen, traurigen Augen sahen hilfesuchend auf den zornigen Mann:
„Veit Winkler,“ sagte Mirjam, „was habe ich Euch getan? Warum wollt Ihr mich töten?“
Betroffen ließ Veit ihre Hände los. Nein, er konnte es nicht verantworten, dieses Mädchen, dem die Unschuld aus den reinen Zügen sah, zu quälen.
„Laß Dich taufen, Mädchen!“ sagte er leise.
„Nimmermehr!“ rief Mirjam erregt. „Ich will nicht in der Gefahr von meinem Volke abfallen. Ihr predigt Nächstenliebe, Geduld, Sanftmut und hundert schöne Tugenden, und befolgt nicht eine. Befolgt Ihr so die Lehren Eures Meisters?“
„Sie lästert!“ schrieen die Männer, und einer hob einen Stein auf und warf nach Mirjam. Ein Schrei entfloh ihren erblassenden Lippen, und ein Blutstrom rann von ihrer Stirn, während sie bewußtlos zusammenbrach. Veit Winkler stand beschämt da und rührte sich nicht. Da öffnete sich die Türe des Hospitales zum Heiligen Geiste, wo man die Pestkranken verpflegte, und ein alter, schlichter Mann trat heraus. Man nannte ihn „Vater Heinrich,“ den Pestmann. Schweigend winkte er Margarete, ihres Weges zu gehen, und ohne die verblüfften Männer anzusehen, hob er sanft das verwundete Mädchen auf und trug es in’s Pesthaus. –
Veit Winkler war der eifrigste Verfolger der Juden gewesen, denn er meinte, das meiste Recht dazu zu haben. Mit einigen jungen Leuten war er den Flüchtigen nachgeeilt, nachdem er zuvor in hochtönenden Worten gelobt hatte, alle zu töten oder gefangen zurückzubringen. Die Juden waren aber entkommen, und nun zogen die Verfolger etwas kleinlaut heim. Den Veit Winkler hatte die arme kleine Mirjam sonderbar gerührt und seinen Haß stark gemildert. Als er nun so zur Stadt hinaufging, fiel ihm plötzlich ein, daß er doch am meisten sein Unglück selbst verschuldet habe. Müßiggang und Vergnügen waren ihm wichtiger gewesen, als ernste Arbeit. So kam sein schöner Krämerladen nach und nach in Schulden. Da borgte Veit bei guten Freunden, und als die ihm nichts mehr geben mochten, fiel er dem Juden Daniel in die Hände, der lieh ihm gegen hohe Zinsen und wucherte mit seinem Gelde. Bei dem ganzen Judenhaß war ihm sein Schuldschein stets die Hauptsache. Wenn der nicht gewesen wäre, hätte er sich um das Volk Israel nicht gekümmert.
Als die Männer am Lauentor anlangten, empfing sie zu ihrem Aerger eine große Menschenmenge mit dem Henker an der Spitze, und als man weder einen toten Juden noch ein Blutfleckchen an den Waffen fand, erhob sich ein großes Gelächter. Der Narr in seiner Schellenkappe hüpfte zu Veit und kicherte:
„Die Juden sind in großer Not,
Veitchen macht sie alle tot!“
„Schweig!“ rief der Gehänselte zornig, wandte sich um und ging zu dem Meister der Geißler, der von ungefähr des Weges kam.
„Veit geht zu den Geißlern dann,
Veitchen wird ein frommer Mann!“
Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_514.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)