Tagesstimmungen vorüberzogen da draußen, die Herbstsonne leuchtete oder Regenwolken tropften, hier und da zog auch noch ein verspätetes Gewitter herauf.
Nachdem die ersten, fieberheißen Tage vorüber waren, hatte sie immer wieder gefragt, wann sie wieder aufstehen könne, und wurde von Woche zu Woche vertröstet. Jetzt war schon lange nicht mehr die Rede davon, und Ellen fragte auch nicht mehr. Sie begann, sich an dies stille, weltferne Dasein zu gewöhnen, das ihr ein tiefes, langes Ausruhen brachte und einen milden Schleier über Leid und Freude legte.
Ihr schien jetzt, als läge schon eine unendlich lange Zeit zwischen dem Jetzt und jener Gewitternacht in Bozen — der Aufschrei war verhallt und nur noch ein mattes, sehnendes Weh zurückgeblieben. Noch einmal hatten sie und Reinhard sich wiedergesehen, er war an ihr Krankenlager gekommen, als er durch den Arzt erfuhr, daß sie wohl hoffnungslos daläge. Und als er sie dann so wiederfand, in einem engen, heißen Hotelzimmer, sie ihn aus starren, tiefliegenden Augen ansah und kaum erkannte, da schwieg sein eigner Schmerz und sein Groll. Er brachte sie ins Krankenhaus und blieb bei ihr, bis die erste Gefahr vorüber war, und selbst dann fand er keine harten Worte mehr. Sie hielten sich lange an der Hand zum Abschied —, es war nicht mehr Ellens Schuld, die sie voneinandergerissen hatte —, sie glaubten beide das Schicksal zu fühlen, das dunkel über ihrem Leben war, eine fremde, unerbittliche Macht, der sie Hand in Hand gegenüberstanden.
Oft gingen jetzt ihre Gedanken zu ihm hin; ihr Heim war für immer verloren, das wußte sie wohl, aber es war doch wie ein großes Geschenk, daß er so von ihr geschieden war ohne Haß und Zorn. Und wie ungeheuer mußte seine Liebe gewesen sein, daß er so bis in die letzten Tiefen zu verstehen vermochte — und wie einsam lag der Weg jetzt vor ihr ohne ihn und alles, was er ihr gewesen war.
Aber es kamen auch Tage, wo sie daran dachte, wie jung sie noch war, und was noch alles vor ihr lag —, wo sich die Zukunft in goldene Fernen weitete —
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0681.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)