zwang sie ihn förmlich mitzufühlen, was jene Frau durchlebt hatte. Er sollte alles verstehen, begreifen, daß es unentrinnbare Gewalten gab, die einen Menschen treiben konnten, so zu handeln und dabei doch so viel zu lieben. Und sie dachte nicht daran, daß die Erkenntnis, sie selbst sei es gewesen, alles Verstehen wieder hinwegschwemmen würde wie einen Strohhalm. Eine törichte Hoffnung dämmerte in ihr auf, daß vielleicht ein Wunder geschehen möchte, das unerhörte Wunder, daß einer, der liebt, dem anderen folgen könnte bis in seine dunkelsten weggewendeten Tiefen, und daß er ihr bleiben könnte, welche Wege sie auch ging.
Dann brach der letzte Tag an — die Sommerwärme lag glühend zwischen den Bergen —, Reinhard und Ellen gingen vormittags einen flimmernden, staubigen Weg, an dem roter Mohn blühte und kleine, wie aus Stein geschnittene grüne Eidechsen spielten. — Sie konnte ihn jetzt nicht länger darüber täuschen, daß sie leidend war, jeder Schritt wurde ihr schwer, und ihre Hände brannten.
„Es braucht ja nichts Schlimmes zu sein,“ sagte sie, „aber es ist doch vielleicht besser, wenn du jetzt allein zu deiner Mutter gehst, für die zwei Tage, und ich nach München fahre, um einen Arzt zu fragen.“
So wußten sie nun beide, daß es für lange Zeit das letzte Alleinsein war.
Lange saßen sie auf den weißen Steinen, die in der Sonne schimmerten.
„Aber war es nicht schön?“ sagte Ellen. „Alle die Wochen jetzt — wie ein ganzes Leben voll Sommer. Sag mir, daß du noch nie so glücklich gewesen bist, Reinhard.“
„Noch nie,“ sagte er, so von innen heraus, daß es ihr ins Herz schnitt. Namenlos traurig sah sie ihn an, und er fühlte plötzlich, daß ihr bange war zum Vergehen. Und dieser Blick kam noch ein paarmal wieder, während die Sommerstunden verrannen und Ellen wie im Fieber von Glück und Leben sprach.
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0677.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)