würde sie nicht von München fortgehen. Ellen hatte ihm deshalb auch ängstlich verschwiegen, wie es mit ihren Mitteln stand. Schon seit dem Herbst aß sie nur noch ein oder zweimal in der Woche in einer kleinen Garküche zu Mittag, die andern Tage konnte man sich mit einem Stück Brot behelfen. Sie legte sich dann, wenn alle fort waren, auf dem Modellpodium schlafen, da merkte man es kaum, ob man etwas im Magen hatte oder nicht. Zufällig kam Zarek einmal herunter und fragte, warum sie nicht zu Mittag fortginge. Von da an teilten die beiden sich in eine Portion um vierzig Pfennige, die vom Wirtshaus herübergeholt wurde.
Von Woche zu Woche mußte sie auf neue Ersparnisse sinnen, nahm sich ein ganz kleines Zimmer, wo kaum das Bett Platz hatte, der kostspielige Morgenkaffee wurde abgeschafft, denn beim Onkel gab es ja schließlich immer Tee und Brot, wenn sie in der Pause hinaufkam. Ellen war überzeugt, daß sie sich ganz gut auf diese Art noch ein paar Jahre durchschlagen könnte; es waren ja manche unter ihren Bekannten, denen es ebenso ging, und keiner klagte darüber; sie lachten nur, wenn sie am Monatsende ihre leeren Taschen umkehrten und abends im Café zusammenkamen, um bei einem Glas Bier stundenlang wenigstens Licht und Wärme zu haben.
Wieder und wieder sprach Reinhard in seinen Briefen davon, daß er die Heirat jetzt endgültig auf Anfang des Sommers festsetzen möchte, und jedesmal schrieb Ellen zurück, sie könnte vorläufig noch nicht daran denken, sie brauchte noch Zeit, um nur sich selbst zu leben. Wollte er das nicht, so müsse er sie freigeben und ihren Weg gehen lassen. Er warf ihr den grenzenlosen Egoismus vor, mit dem sie ihrer beider Glück gefährdete, und hielt dennoch fest, in der sicheren Überzeugung, daß sich alles ganz wie von selbst ändern würde, wenn Ellen erst bei ihm war.
Aber in ihr hatte sich seit dem weihnachtlichen Beisammensein vieles gewandelt — das unbedachte Hineinleben in all die brausende Lebensfreude, die der
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0648.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)