vorgestellt habe. Es ist nie so überwältigend, wie ich es haben wollte.
Zu Hause Briefe von Reinhard vorgefunden. Er freut sich über meine jetzige Lebenslust. — Es kommt mir fast wie Ironie vor — denn ich bin gar nicht lustig — mir ist, als ob mein Leben in einer Krisis wäre, die vielleicht alles verschlingt.
Ich denke viel über Reinhard und über unser Verhältnis nach. Wie waren wir glücklich zusammen diesen Sommer — ich war also doch einmal wirklich glücklich und glaubte selbst daran. Aber mitten im Glück dachte ich wieder an einen andern — Leon, — es zuckt immer noch etwas in mir nach, wenn ich seine Karte lese, und ich möchte ihn wiedersehen. Das war noch bei allen meinen Lieben so. Vielleicht kann ich überhaupt nicht ganz und ungeteilt lieben — das habe ich mir schon oft gesagt — oder wenigstens nicht einen allein. Wie oft haben Reinhard und ich darüber gesprochen — er glaubt selbst, daß er sehr frei denkt — aber nur da, wo es nicht unser Verhältnis zueinander angeht. Er ist im Grunde doch ein moralischer Mensch und ich bin es nicht, das ist die ganze Geschichte. Hätte ich ihm von Leon erzählt, so wäre alles zwischen uns aus gewesen.
Gestern sprach ich mit der Dalwendt darüber — sie ist auch verlobt; aber noch ganz unschuldig — aus Überzeugung, weil sie es so will. Bei mir ist es immer nur, daß ich gezwungen bin oder mich zwingen lasse, nach dem Empfinden eines andern zu handeln. Mir selbst gegenüber habe ich nie das Gefühl, etwas einzubüßen — im Gegenteil, mich drückt oft nur meine Tugend nieder, dies ewige Vorbeigehen am Leben, und manchmal verlangt mich danach, mich besinnungslos in den Strudel zu stürzen.“
20. September
„Heut haben wir den ganzen Abend in einer Schnapsschenke gezeichnet — eine niedrige, verräucherte Gaststube, wo wahre Banditengestalten an langen Tischen saßen, mit kleinen Schnapskelchen aus dickem gelbem oder rotem Glas vor sich. Die Strolche fühlten sich
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0630.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)