„Das werden Sie nicht tun — Ihre Mutter will Sie nicht sehen. Sie haben genug Schmerz und Schande über Ihre Eltern gebracht, treiben Sie es nicht noch weiter. Oder wollen Sie auch noch das Totenbett Ihres Vaters und den Schmerz der andern entweihen?“
„Weiß er, daß ich hier bin?“
„Nein, und er wird es auch nicht erfahren. Man ist ängstlich bemüht, ihm jede Aufregung fern zu halten, und verlangt deshalb von Ihnen, daß Sie gleich wieder abreisen. Es geht heute noch ein Nachtzug nach Hamburg.“
„Nein, ich bleibe hier, solange mein Vater noch lebt, und wenn er mich rufen läßt —“
„Ich wiederhole Ihnen, Sie dürfen das Haus Ihrer Mutter nicht betreten.“ Der Geistliche erhob mahnend die Hand. „Und ich will Ihnen nur noch das eine sagen: Sie werden Ihren Vater nicht mehr sehen — und wenn ich mich selbst vor die Tür stellen müßte.“
Ellen wandte ihm den Rücken und ging auf die beiden zu, die langsam auf und ab wanderten; dann nahm Annita Allersen sie mit in ihr Haus.
Die ersten Tage kam Detlev und brachte ihr Nachricht; der Vater lag im Krankenhaus, und sie waren alle von Morgen bis Abend dort.
Dann blieb er aus. Als er bis Nachmittag nicht gekommen war, suchte Ellen den Arzt auf, der ihren Vater behandelte und den sie von früher her kannte.
„Sie sollten doch mit Ihrer Mutter sprechen,“ sagte dieser. „Es ist wohl kaum zu hoffen, daß er den Abend überlebt.“
Ellen ging durch die ganze Stadt und weit hinaus bis in den Wald, da lag sie eine Stunde nach der andern im Gras. — Nun würde er sterben und sie ihn nie wiedersehen, und was mochte er gelitten haben um sie! Ihr ganzes Zuhauseleben zog wieder an ihr vorüber — was war es anderes gewesen, als Feindseligkeit und Erbitterung. Man war hart verfahren mit ihrer Jugend, die nach Freude und Sonne verlangte. Aber sie wußte doch auch, daß
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0610.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)