Übrigens bin ich viel mit Ernst Allersen zusammen, wir gehen fast jeden Morgen vor meinen Stunden am Hafen herum. Der Verkehr mit ihm ist mir sehr viel, und ich brauche jemand, mit dem ich reden kann. Weißt Du noch, wie Detlev ihn immer den zweiten Zarathustra nannte, ich muß oft daran denken. Wir gehen meist schweigend nebeneinander, oder ich erzähle ihm von meinem Leben, und er rollt nur die Augen und sagt: „Ja, ja.“
— — Wieder ist mein Brief liegen geblieben, aber heute muß ich mich zu Dir flüchten, um wieder zur Besinnung zu kommen. Vorgestern hat sich der junge Rehmer erschossen, Du hast ihn doch bei uns gesehen — er war erst sechzehn Jahre alt. — Ich hab' ihn gesehen, da ich gerade mit einer Bestellung hingeschickt wurde, und den ganzen Tag konnte ich diesen Anblick nicht mehr los werden — das blasse Gesicht mit dem Tuch um die Stirn.
Statt zur Schule zu gehen, nahm ich mir ein Boot und war den ganzen Nachmittag auf dem Wasser — der Himmel war so trübe und bleigrau, und ich konnte immer nur an den Tod denken und — wenn dieses Kind den Mut hatte, warum kann ich ihn dann nicht auch finden? Es wäre ja das beste, die Erlösung von allem. Jetzt bin ich am Fenster bei dem schwülen Maiabend und möchte vergehen vor Weh. Du schriebst mir das letztemal, ich sollte mir vor allem Lebensmut und Freude bewahren. — Glaubst Du denn, ich habe noch eines von den beiden? Nein, es ist nur noch eine verzweifelte Zähigkeit, das Letzte durchzuhalten. Und warum muß das Leben gerade mich so drücken, gerade mir alles nehmen, alles versagen? Es gibt doch viele, die das nicht so fühlen und ganz zufrieden wären an meiner Stelle.
Vorhin kam mein Vater zu mir herein und sagte ganz leise: „Ellen, bedenke, daß Tatsachen unwiderruflich sind.“ Wir sahen uns lange an, dann ging er wieder. Er muß wohl etwas geahnt haben, was heute in mir vorging, und ahnt auch, daß er mich doch einmal verlieren wird, so oder so — rettungslos.
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0579.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)