was sie in sich aufnahmen, lasen, dachten, was in ihnen wuchs und was jeder erlebte, wurde erst voll und ganz, wenn sie es miteinander teilten. Und was hatten sie nicht alles in sich aufzunehmen in dieser Zeit!
Eines Abends kam Detlev mit einem Buch nach Hause. Die Eltern waren aus, und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem. Sie holten sich ihren Tee herüber, vor dem Ofen schliefen die Hunde, Ellen lag auf dem Sofa, Detlev saß neben ihren Füßen und las vor — es war Nietzsches Zarathustra.
Sie bebten beide — der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne — jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt, es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen — es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte — brausend, berauschend, überwältigend. Und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -Empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein — nur das wahre, das heilige, große Leben leuchtete und lachte und tanzte.
Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden — noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter — wie aus einer andern Welt hörten sie Eltern und Schwester heimkommen, die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden.
Und von nun an lasen sie jeden Abend, der Zarathustra wurde ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten. Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren, — da gab es Gespräche, bei denen sie alle fieberten: die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten. Es war wie ein gärender
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0575.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)