ein halbes Jahr kann ich mit ihnen leben, dann muß ich wieder hinaus unter fremde Menschen, wo ich auch nicht hingehöre.
Wenn sie auch gut gegen mich sind, gerade das tut mir manchmal am meisten weh und es sind doch überall dieselben Schranken, an denen ich mich wundstoße.
Und ich fühle doch auch, daß niemand so zur Lebensfreude geschaffen ist wie ich — manchmal erschrecke ich selbst darüber, was für Wildheit in mir steckt und sich ausrasen möchte.
Du bist ja der einzige, zu dem ich so sprechen kann. Hab Geduld mit mir, Du allein, die andern haben sie ja alle nicht, weil ich nicht so sein kann, wie sie mich haben wollen. Vielleicht, wenn Du mich ganz kenntest, würdest Du ebenso denken wie sie. Das ist ein fürchterlicher Gedanke; nein, sag mir, daß Du immer an mich glauben willst — immer. Hilf mir, ich will auch alles auf mich nehmen, wenn Du mich nur lieb hast.“
10. Mai
„Die ruhigen Tage hier haben mich wieder mehr ins Gleichgewicht gebracht — sowie ich nur die wahnsinnige Überreizung von zu Hause überwunden habe, bin ich wieder ein andrer Mensch. Und Dein geliebter Brief macht mich so froh.
Ich werde hier förmlich verzogen und habe ziemlich viel Freiheit, kann den ganzen Tag draußen zeichnen oder rudern.
Dein Herbstgedicht ist sehr schön — ich mußte an die Herbsttage daheim in Nevershuus denken, wenn ich mit den Hunden auf der Koppel war und im Gehen den Ossian las. Kennst Du den? Oder in den Sturm hinaussang — ich kann eigentlich gar nicht singen, nur wenn ich allein bin. Aber ich sehne mich so oft nach Musik, und sie fehlt mir so. Aber bei uns ist das nun einmal so: was nicht zum täglichen Brot gehört, ist überflüssig und verwerflich. Und was könnte man alles aus sich machen, wenn einem nur ein bißchen geholfen würde. Ich möchte
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0567.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)