ohne irgend etwas zu sehen, die Treppe hinauf, oben am letzten Gangfenster blieb sie stehen und legte das Gesicht an die Scheiben. Sie hatte Todesangst vor zu Hause — heute wußten sie es vielleicht schon. Es war nicht auszudenken, wie eine erdrückende Last wälzte es sich von allen Seiten über sie her. Dazwischen glänzte wohl auch etwas Helles, Freudiges auf: heimkommen — fort aus diesen dumpfen Schulstuben, aus der moderigen Kerkerluft. Heimatsvisionen kamen, das Schloß, die sonnigen großen Zimmer, wo abends die Spatzen vor den Fenstern in den Ulmen schwätzten, der sommerliche Garten mit seinem starken Fliederduft — Detlev, die Geschwister alle — und nun schluchzte sie vor Heimweh. Ja sie wollte nach Hause, nur nach Hause, wie schlimm es auch werden mochte.
Am Montagmorgen kam Ellen noch halb verschlafen hinunter. Vor ihrem Schrank stand Fräulein Blumener, die Wirtschaftsdame, mit der turbanartigen, punktierten Haube und räumte die Sachen auf.
„Was soll das?“
„Fragen Sie nicht so unverschämt — Sie bekommen Ihren Schrank jetzt da oben auf der Treppe, damit die andern nicht mehr wie nötig mit Ihnen in Berührung kommen. Wer so lügt und trügt wie Sie, muß sich auch darauf gefaßt machen, daß man ihn danach behandelt.“
Ellen lachte, um ihre Wut zu verbergen, und machte ihr hochmütiges Gesicht. Nachher schrieb sie mit Riesenbuchstaben auf die Innenseite der Schranktür:
- „Ich habe nie das Knie gebogen — den stolzen Nacken nie gebeugt.
- 17. Februar 1885.“
Das brachte ihr wieder einen Tag Arrest ein. Und so ging es nun mit allem; sie war in Acht und Bann getan, jede von den andern, die sich noch mit ihr sehen ließ, fiel in Ungnade. Aber sie nahm den Fehdehandschuh auf, beging bei jedem Anlaß die größtmöglichen Ungezogenheiten, nahm die Strafe
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0544.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)