„Ellen Olestjerne soll hereinkommen.“
Sie kam, machte die drei vorschriftsmäßigen Knickse — einen an der Tür, dann in der Mitte des Zimmers, wo die großen Blumen im Teppich waren, und den letzten, als sie vor der alten Dame stand.
Die Pröpstin des freiadligen Stiftes zu A … saß an ihrem Schreibtisch. Sie war schon über sechzig Jahre alt und kannte keine Ruhestunden. Ihr strenges, wie in Stein gehauenes Gesicht mit der hohen, blanken Stirn hatte einen Zug von eiserner Energie — sie hielt sich sehr gerade, nur in der weißen schmalen Hand, die auf der geschnitzten Stuhllehne lag, war etwas von der Müdigkeit des Alters.
„Was sind das für Sachen, Ellen? Du hast Hedwig Vogt ins Gesicht geschlagen?“
„Ja, weil sie mich geärgert hat, das lasse ich mir nicht gefallen.“
Die Pröpstin faßte Ellen ums Handgelenk und führte sie ans Fenster, wo es etwas heller war.
„Vor allem, mein Kind, mäßige dich in deiner Art zu reden.“
Ellen wollte etwas sagen, aber sie kam nicht zu Wort, die gestrenge Stimme sprach immer weiter mit ihrem harten, scharfklingenden S.
„Es schickt sich überhaupt nicht, so aufzubrausen. Mit solchem Benehmen kommst du mir hier nicht durch, Ellen. Wenn du meinst, daß dir unrecht geschieht, kannst du zu mir kommen und dich beschweren. Ihr seid keine Gassenjungen.“
„Ich wollte, ich wäre einer,“ fuhr Ellen endlich dazwischen. Sie war empört, daß sie sich nicht selbst ihrer Haut wehren sollte.
„Was sagst du da?“ die Stimme wurde immer strenger und das S immer schärfer. „Nimm dich in acht, Ellen, ich weiß, wes Geistes Kind du bist. Deine Mutter hat mit mir gesprochen, und wenn ich sehe, daß in Milde mit dir nicht auszukommen ist, so gibt es noch andere Mittel.“
„Mein liebes Kind — die Frau Pröpstin hat uns wieder geschrieben, daß Du sehr eigensinnig bist und
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0535.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)