Zum Inhalt springen

Seite:Reventlow Werke 0534.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Leben und in die Welt hinaus, in die unbekannte verheißungsvolle Welt.


An einem Sonntagmorgen, als Ellen zum Frühstück hinunterkam, las Mama gerade einen Brief.

„Nun ist alles in Ordnung,“ sagte sie und legte ihn neben ihren Teller. „Du kommst Ostern in die Pension nach A …, Ellen.“

Ellen nahm diese Nachricht mit dumpfer Gleichgültigkeit hin. Von der Pension war schon oft die Rede gewesen, aber sie hatte bisher nie recht daran geglaubt.

Es waren nur noch wenige Wochen bis Ostern. Sie machte ihrer Umgebung die letzte Zeit noch so schwer wie möglich. Nur mit Detlev allein war es anders, da taute ihr ganzer Schmerz auf, daß sie fort sollte, von ihm und von der Heimat. Die beiden waren noch nie einen Tag getrennt gewesen, hatten jedes Erlebnis, jede Empfindung geteilt, seit sie denken konnten. Sie wußten es nicht zu fassen, daß sie jetzt voneinander gerissen wurden, daß wirklich einmal der letzte Tag käme. Aber er kam und er ging vorüber — am Abend sollte Ellen mit ihrer Mutter abreisen.

Nach Tisch schlichen sich die beiden Jüngsten hinauf in die alte Kinderstube. Beim Essen hatten sie Wein bekommen, ihre Köpfe brannten, — so hielten sie sich lange umschlungen und weinten ihre bittersten Tränen. — Zwei Jahre — zwei endlose Jahre voneinander getrennt sein und lernen müssen, gequält werden, — sie fühlten beide, daß etwas Unwiederbringliches vorüber war und nie wiederkommen würde. Als man sie rief, kamen sie mit roten, verschwollenen Augen. Dann gingen alle zusammen an die Bahn. Vor den anderen weinten sie nicht mehr und küßten sich nicht.

Detlev stand mit zusammengebissenen Zähnen abseits von den Geschwistern auf dem Perron und ließ keinen Blick mehr von Ellen, bis der Zug mit ihr und der Mutter in die weite Marschebene hineinfuhr.

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0534.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)