leidenschaftlich an diese ganze Heimatswelt, die in tausend vertrauten Tönen zu ihr sprach; sie dachte an all die langen Sommerstunden, wo sie hier gespielt hatten mit soviel Freude und Mut, weil jeder Tag und jede Jahreszeit immer wieder etwas brachte, daß Geerd kam, oder bald Ferien waren, oder das Obst reif wurde. So unendlich viel hatten sie immer vorgehabt und sich ausgemalt für die nächsten Jahre und für später, als ob überall große Schätze und Reichtümer lägen, die man nur zu heben brauchte.
Aber auch durch all diese frohen Zeiten ging doch immer ein bittrer Grundton — Mama! Seit sie denken konnte, fühlte Ellen sich wie verfolgt von ihr und warum? Warum bekamen Mamas Augen immer diesen sonderbaren, bösen Blick und ihre Stimme den zornigen, fast pfeifenden Ton, wenn Ellen nur zur Tür hereinkam? War sie allein mit der Mutter im Zimmer, so wehte es sie eisig an, als ob jeden Augenblick etwas Furchtbares geschehen könnte, und nachts träumte sie manchmal, daß die Mutter mit der großen Schere hinter ihr herlief und sie umbringen wollte. Sie hatte sich ja beinahe daran gewöhnt, wie an ein Gebrechen, mit dem man geboren wird und weiß, daß es auf Lebzeiten nicht wieder abzuschütteln ist. Aber woher die Kraft nehmen, es zu tragen? Ellen fing an, wieder fromm zu werden — der liebe Gott war der Einzige, der ihr helfen konnte, aber er war so weit weg. Sie versuchte es förmlich mit Sturm, ihm wieder nah zu kommen. Es war ihr nicht mehr genug, jeden Sonntag zur Kirche zu gehen, sie betete beim Aufstehen und beim Schlafengehen alles, was sie auswendig wußte, lange Gesänge, Katechismusstücke, und immer auf den Knien. Das bloße Dasitzen mit gefalteten Händen, wie bei der Hausandacht, war ihr nicht feierlich genug. Oft stand sie auch nachts wieder auf, zog den Vorhang in die Höhe, um die Sterne zu sehen, und hielt ihren einsamen Gottesdienst. Oder bei Tage, wenn sie sich ungestört wußte, errichtete sie eine Art Altar, um davor zu beten, stellte ihren liebsten Kanarienvogel mit seinem Käfig auf einen Stuhl und Blumen ringsherum.
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0529.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)