und Schläge — nein, sie wollte lieber fortlaufen, gleich morgen früh fortlaufen. Und dann malte sich Ellen aus, wie sie immer den Deich entlang gehen würde, der sich so endlos in die Ferne schlängelte. Denn da mußte es hinausgehen in die Welt. — In eine große Pappschachtel packte sie ihre liebsten Sachen zusammen, um sie auf der Flucht mitzunehmen. Dann dachte sie wieder an die Akrobaten, sie hatte Geschichten gelesen von Zigeunern, die Kinder raubten und zu Kunststücken abrichteten. Die würden sie gewiß mitnehmen, und was für ein wundervolles Leben müßte das sein, ohne Stunden und Eltern und Gouvernanten. Dazwischen fiel ihr plötzlich ein, was Lise vom Teufel erzählt hatte: wer sich ihm verschrieb, dem konnte er alles verschaffen, was er sich nur wünschte.
Es wurde Abend, die alten Marmorreliefs am Kamin schimmerten matt durch die Dämmerung, aber heute fürchtete Ellen sich nicht. Sie saß tief in Gedanken und rang mit einem großen Entschluß. Schließlich suchte sie sich einen von ihren schönsten bunten Briefbogen aus der Schublade, ging damit ans Fenster, wo es noch etwas hell war, und verschrieb sich dem Teufel mit Leib und Seele, wenn er ihr helfen wollte, zu den Zigeunern zu kommen. Ellen steckte den Brief in ein Kuvert und legte ihn oben auf das Kaminsims, dann ging sie verstockt zu Bett. Das Fortlaufen wollte sie nun einstweilen noch aufschieben.
Als sie ein paar Tage später nachsah, war der Brief verschwunden, der Teufel hatte ihn also wohl gefunden und mitgenommen. — Ellen erschrak furchtbar, ihr Trotz war inzwischen schon wieder etwas abgesunken, aber nun gab es keine Rückkehr mehr.
Die Mutter und Fräulein Anna waren in der folgenden Zeit manchmal der Verzweiflung nahe, denn mit Ellen war nichts mehr anzufangen, sie wurde von Tag zu Tag ungezogener. Wozu sollte sie sich jetzt noch Mühe geben, wenn sie doch dem Teufel gehörte. Sie wartete nur darauf, daß er sich irgendwie betätigen würde, und fühlte sich einsam und verwegen, als ob die ganze Welt gegen sie stände.
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0515.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)