J. F. Ernst (d. i. Johann Friedrich Ernst von Brawe, 1746–1806): Raisonirendes Journal vom deutschen Theater zu Hamburg (14.–26. Stück) | |
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IV. Acts sezte sich Herr Solbrig erst auf den leerstehenden Lehnstuhl neben Ophelien, und hutschte dann, ohne alle Veranlaßung, von ihm herunter zu ihren Füßen. Ich weiß es recht gut aus Erfahrung, daß fast alle Darsteller des Hamlet, selbst große Künstler, die Attitude, daß Hamlet seinen Plaz, während der von ihm angeordneten Comödie, vor Ophelien auf der Erde sizend auswählt, als wenn sie in der Rolle vorgeschrieben wäre, beobachten, wenn sie aber nicht unschicklich werden soll: so müßen der sich für eine Person der königlichen Familie auszeichende Lehnstuhl zur linken Hand der Königin stehen, und leer bleiben, hingegen Ophelie den ersten vordersten Plaz auf der linken Seite des Theater einnehmen, und alle übrigen Stühle neben ihr vom anwesenden Hofgefolge schon besezt seyn, so lange Hamlet noch steht. Wenn dann die Königin ihm zuruft: „Komm hieher, mein liebster Hamlet, seze dich zu mir!“ so kann Hamlet seine eigentliche Absicht: den König während der Comödie im Vis à Vis, und in der strengsten Beobachtung, zu behalten, unter die Antwort an seine Mutter: „Um Vergebung, Mutter, hier ist ein Magnet, der stärker zieht,“ schiklich versteken, und sich, da Ophelie den vordersten Stuhl auf der linken Seite bereits eingenommen hat, auch keiner neben ihr leer ist, zu ihren Füßen auf die Erde, dem König gerade gegenüber, niederlassen.
J. F. Ernst (d. i. Johann Friedrich Ernst von Brawe, 1746–1806): Raisonirendes Journal vom deutschen Theater zu Hamburg (14.–26. Stück). Conrad Müller, Hamburg 1801, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Raisonirendes_Journal_vom_deutschen_Theater_zu_Hamburg_(1801)_Seite_058.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)