Konkurrenz und Krisen zusammenschmelzenden Einzelunternehmer, erscheint jetzt als die Vorstufe der eigentlichen sozialistischen, herrschaftslosen Gesellschaft. Diese evolutionistische Stimmung, die von dieser langsamen Umbildung die Entwicklung zur sozialistischen Zukunftsgesellschaft erwartet, war vor dem Krieg tatsächlich in der Meinung der Gewerkschaften und auch bei vielen Intellektuellen unter den Sozialisten an die Stelle der alten Katastrophentheorie getreten. Daraus sind die bekannten Konsequenzen gezogen worden. Der sogenannte „Revisionismus“ entstand. Seine eigenen Führer sind sich wenigstens zum Teil bewußt gewesen, wie schwerwiegend der Schritt war, den Massen jenen Glauben an die plötzlich hereinbrechende glückliche Zukunft zu nehmen, den ihnen ein solches Evangelium gab, welches ihnen wie den alten Christen sagte: Heute nacht noch kann das Heil kommen. Man kann ein Glaubensbekenntnis, wie es das Kommunistische Manifest und die spätere Katastrophentheorie war, wohl entthronen, aber es ist dann schwer möglich, es durch ein anderes zu ersetzen. Indessen über diese Auseinandersetzung in diesem aus Gewissensbedenken gegen den orthodoxen Glauben mit der alten Orthodoxie entstandenen Streit ist die Entwicklung längst hinweggegangen. Er verquickte sich mit der Frage: ob und wieweit die Sozialdemokratie als Partei „praktische Politik“ in dem Sinne treiben sollte, daß sie Koalitionen mit bürgerlichen Parteien einginge, an der politisch verantwortlichen Leitung durch Uebernahme von Ministerstellen sich beteiligte und so die jetzige Lebenslage der Arbeiter zu verbessern trachtete — oder ob das ein „Verrat an der Klasse“ und eine politische Ketzerei sei, wie der überzeugte Katastrophenpolitiker selbstverständlich es ansehen mußte. Aber inzwischen sind andere prinzipielle Fragen aufgetaucht und an diesen spalten sich die Geister. Nehmen wir einmal an, daß im Wege einer allmählichen Evolutionierung, also der allgemeinen Durchkartellierung, Standardisierung und Verbeamtung die Wirtschaft sich so gestaltete, daß irgendwann die technische Möglichkeit gegeben wäre, daß an die Stelle der heutigen unternehmungsweisen Privatwirtschaft und also des Privateigentums an den Produktionsmitteln eine den Unternehmer ganz ausschaltende Regulierung treten könnte. Wer soll es dann sein, der diese neue Wirtschaft übernehmen und kommandieren würde? Darüber hat sich das Kommunistische Manifest ausgeschwiegen
Max Weber: Der Sozialismus, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Max_Weber_-_Der_Sozialismus_Seite_25.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)