Beispiele zu Tausenden, wenn sie nicht schon größtentheils allbekannt wären.
30. Was hat nun der vernünftige Mann zu thun, wenn er entweder an der Wahrhaftigkeit [des Verläumders] oder an der Tugend [des Verläumdeten] zweifeln soll? Ich denke dasselbe, was schon Homer in seiner Dichtung von den Sirenen angedeutet hat, wenn er räth, an jenen süßlockenden aber verderblichen Tonen vorüberzusegeln, und sich die Ohren zu verstopfen; also sein Gehör nicht Leuten zu öffnen, die von Leidenschaft eingenommen sind, sondern die Vernunft gleichsam als scharfprüfenden Thürhüter an den Eingang zu stellen, und nur das Würdige an sich kommen und sich anvertrauen zu lassen, alles Schlechte hingegen abzuweisen und auszuschließen. Es wäre doch wohl ungereimt, da wir Thürhüter an unsere Häuser stellen, wenn wir die Ohren und das Gemüth offen stehen ließen.
31. Naht sich also Einer mit einer solchen nachtheiligen Aussage, so untersuche man die Sache an und für sich selbst, und lasse sich weder von des Redenden Alter, noch von seinem sonstigen Charakter, noch auch von seiner geschickten Art der Darstellung irre machen. Denn gerade je mehr Ueberredungskunst er besitzt, desto sorgfältigere Prüfung ist nöthig. Man traue also nicht dem Urtheile oder vielmehr der Leidenschaft des Anklägers, sondern behalte sich die Untersuchung der Wahrheit selbst vor, rechne ab, was Jener etwa aus Haß gesagt haben könnte, suche sich auf’s Klarste von den Gesinnungen beider Theile zu unterrichten, und entschließe sich erst nach solcher Prüfung zur Abneigung gegen den Einen und zur Liebe gegen den Andern. Allein vor
Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 1458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_1458.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)