Ohne Zweifel war auch dieser Dichter überzeugt, daß es unter den vielerlei Arten von Ungerechtigkeiten, welche in dem menschlichen Leben begangen werden, keine größere geben könne, als einen Menschen zu verdammen, ohne ihm das Wort gegönnt, und seine Sache erwogen zu haben. Und eben dieß ist es ja, was der Verläumder beabsichtigt, indem der Verläumdete dem Hasse des Dritten ohne weitere Untersuchung anheimfällt, und durch die Heimlichkeit der Anklage der Möglichkeit beraubt ist, sich zu rechtfertigen.
9. Menschen dieser Art sind zu feige, um frei und offen zu Werke zu gehen. Sie lauern, wie Wegelagerer, auf eine Gelegenheit, ihre Pfeile aus dem Verborgenen abzuschießen, so daß man seinen Feind nicht kennt, sondern sich, ohne sich zur Wehre setzen zu können, zu Grunde richten lassen muß. Gerade dieses Verfahren aber beweist, wie unhaltbar die Aussagen des Verläumders sind. Denn Wer sich bewußt ist, daß er die Wahrheit sagt, spricht sie auch offen aus, und beweist dem Gegner geradezu in’s Gesicht, daß es die Wahrheit sey. Keiner, der stark genug ist, einen offenen Sieg zu erfechten, wird Schleichwege und Betrug gegen seinen Feind gebrauchen.
10. Am häufigsten findet man Leute dieses Schlags an den Höfen der Fürsten und unter den Günstlingen der Mächtigen und Großen, wo Neid und Argwohn aller Art, und tausendfältiger Anlaß zu Schmeichelei und Verläumdung sich findet. Denn wo die größten Hoffnungen genährt werden, da ist immer auch der Neid um so erbitterter, der Haß um so gefährlicher, die Eifersucht um so arglistiger. Man beobachtet sich gegenseitig mit scharfem Auge, und lauert, wie im
Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 1447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_1447.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)