Auch während des Waffenstillstandes mussten wir uns vor den Franctireurs hüten; es war immer gefahrlich, sich allein in einsame Gegenden zu begeben. Eines Tages ging ich mit einer Patrouille, die ein Leutnant führte, über verschiedene Dörfer in denen Franctireurnester ausgehoben werden sollten; d. h. ich ging nur bis ins nächste Dorf mit, das 6 bis 7 Kilometer entfernt war. Da traten wir in ein Bauernhaus und nahmen den Bauer fest, ohne Widerstand, aber unter jämmerlichem Geschrei seiner Frau und Kinder. Der Leutnant befahl mir, den Mann nach Dissay zu führen und der Feldwache zu übergeben. Ich liess also den baumlangen Menschen in der Zipfelmütze vor mir hergehn und folgte ihm mit geladenem Gewehr. Auf den Feldern arbeiteten die Leute und riefen ihm ängstliche Fragen zu. Auf diesem anderthalbstündigen Weg hätte ich ausserordentlich leicht von hinten erschossen werden können. Es passirte aber nichts weiter, ich lieferte meinen Gefangenen ab und glaube, dass er nach wenigen Tagen wieder frei nach Hause ging.
Sonst geschah in diesen Wochen nichts Kriegerisches. Vielmehr wurden wir neu eingekleidet, was höchst angenehm war; wir mussten aber auch die Sachen wieder halten wie im Frieden, nicht nur das Gewehr durch vorsichtiges Reiben allmählich entrosten, sondern auch Stiefel und Knöpfe putzen; und sogar der Friedensdienst mit Exercieren und Wachdienst wie in der Garnison fing wieder an. Eines Tages stand ich mit Schnitzler Doppelposten am Eingang des Dorfes, da kam unser Major angeritten,
Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_74.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)