nicht erreicht. Ich las im Schützengraben mit dem Gewehr in der Hand, „während“, wie ich in einem Brief nach Hause schrieb, „die Kugeln pfiffen und ich dann und wann einen zu kühnen Spahi aufs Korn nehmen musste“. Von Onkel Hans bekam ich ein Päckchen Chocolade, die auch gleich im Laufgraben verzehrt wurde. In der Nacht stand ich Posten auf dem äussersten Punkt, ganz einsam, denn die nächsten rechts und links waren doch 50 bis 100 Schritt entfernt und die Nacht dunkel. Es war wärmer als sonst, Alles in tiefer Stille, ich in gespannter Aufmerksamkeit und Erwartung heranschleichender Feinde, aber doch sonderbar befangen in einer ruhigen, heimlichen Stimmung. Als von einem Gehöft in der Ferne her der Hahn zu krähen anfing, klang es mir wie ein Zeichen des herankommenden Friedens. Und in der Tat brach an diesem Morgen die letzte Woche des Krieges an und ich hatte schon die letzten Kugeln pfeifen hören.
Den 21. Januar wurden wir von Vorposten abgelöst und marschierten in vier gelinden Tagemärschen (denn nun brauchten unsere Kräfte nicht mehr rücksichtslos angestrengt zu werden) nach Le Mans zurück, wo sich unser Armeekorps, das 10., concentrirte. Aus diesen Marschtagen ist mir eine Scene besonderer Art in Erinnerung. Meine Kompagnie kam um Mittag an einem hübschen Schlösschen vorbei, das in seinem blätterlosen Park an der Landstrasse stand. Es war doch der Mühe wert, einmal nachzusehn, ob es da ein gutes Mittagessen geben möchte. Eine Patrouille, zu der ich
Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_66.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)