mehr als 150 Schritt von uns entfernt. Die Stärke dieser Truppen war unsern Führern natürlich ganz verborgen; wir blieben darum zuerst im Schnee unter den Gewehren stehen und stellten, nachdem sich ein paar Stunden lang nichts gerührt hatte, die Gewehre zusammen. Während dieses Stehens kam uns Hunger, Durst und Müdigkeit wieder zum Bewußtsein. Das einzige, was ich Stärkendes bei mir hatte, war die am Abend vorher mit Liqueur gefüllte Feldflasche. Wie es kam, dass sie noch unberührt war, kann ich wirklich nicht sagen; aber als ich sie jetzt zum Munde führte, hatte ich die schmerzliche Enttäuschung, dass es ein brandsüsses syrupartiges Getränke war. Neben mir stand mein Freund Gustav Jacobsen, den wir in ruhigen Zeiten wegen seiner Süssmäuligkeit zu necken pflegten. Er hatte einen kräftigen Cognac gegriffen, von dem gab er mir und trank selber mit Behagen den ganzen Inhalt meiner Flasche nach und nach herunter.
Die Posten wurden ausgestellt und wer wollte, durfte sich in seinen Mantel wickeln und auf den Schnee zum Schlafen legen. Ich wenigstens war in tiefem Schlummer, als plötzlich ‚an die Gewehre‘ gerufen wurde und ein Schauer von Schüssen knallte. Der Feind hatte uns überfallen wollen, war aber rechtzeitig empfangen worden, und nun wurde die Hälfte von uns, zwei Kompagnien, darunter meine, vorgeschickt, um ihn zurückzutreiben. Das Feuer verstummte bald, weiter im Dunkeln auf dem unbekannten Terrain vorzugehen war nicht geraten,
Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_57.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)