Tage dagegen, wenn einem das Licht ins Auge schien, wurde die Müdigkeit unwiderstehlich, dann sass man immer im Schlaf oder Dusel, und konnte danach wieder in der Nacht um so weniger schlafen. Einmal wachte ich am hellen Mittag aus festem Schlaf dadurch auf, dass mein Gegenüber, ein biederer Bauernjunge, der sich die Stiefel ausgezogen und in dem unwiderstehlichen Drang sich Bewegung zu machen die Beine ausgestreckt hatte, mit seinen beiden Strümpfen auf meinem Gesicht lag.
Es war eine schreckliche Reise, und sie dauerte, wie gesagt, fünf Nächte (denn die stehn billig voran) und sechs Tage, die beiden in Deutschland eingerechnet, obwohl sie nur bis Troyes ging, das man von der Grenze aus in einem halben Tage erreichen kann. Die Züge mussten eben warten, Umwege machen und sich schicken. Unser Weg ging auch keineswegs in gerader Linie: am 12. bis Saarburg, am 13. über Nancy und Toul nach Bar le Duc, am 14. über St. Dizier und Joinville nach Chaumont (hier mussten wir, weil Trupps von Franctireurs gemeldet waren, den grössten Teil der Nacht über wachbleiben), am 15. über Châtillon nach Troyes, dem Endpunkt unserer Fahrt. Mir wurde die Reise erleichtert durch die Gesellschaft meines Freundes Hermann Wietfeld, der neben mir sass und der nun wirklich mein liebster Freund war, und zwar vom ersten Tage an dass wir uns kennen lernten. Er war ein blonder Junge, mit lockigem Haar und blauen Augen, Sohn eines Bäckermeisters in Celle,
Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_21.jpg&oldid=- (Version vom 29.6.2017)