kam das gewöhnliche Nachexerzieren, diesmal wieder meines Zuges, und zwar unter dem Kommando des Feldwebels. Da ertönte von der Weenderstrasse her ein unbestimmtes dumpfes Geräusch – kein Zweifel, eine grosse Nachricht. Der Feldwebel merkte es, und obwohl die angesetzte Zeit um war, fing er ein neues Exercitium an. Da kam der Bataillonsadjutant durch das Kasernenhoftürchen am Geismartor und rief über den ganzen Platz hinüber einem Offizier, der in der Kasernentür stand, zu: ‚Der Kaiser ist gefangen!‘ Wir hörten es alle und der Feldwebel auch, aber er kannte nichts als die teuflische Lust, uns zu ‚zwiebeln‘; kommandirte ‚stillgestanden‘, so dass wir nicht einmal eine Miene verziehen durften, und liess uns noch eine Zeitlang hin- und hermarschieren. Dann entliess er uns, wir liefen auf die Weender und fanden schon aus allen Fenstern die Fahnen hängen, alles Volk jubelnd durch die Strassen ziehen, an den Ecken die Anschläge: Sieg, Kapitulation der feindlichen Armee, der Kaiser gefangen.
Am Abend war ein improvisirtes festliches Zusammensein der Bürgerschaft und Universität im Grethenschen Saal am Wilhelmsplatz (wo jetzt das Glück im Winkel ist). Es wurden Lieder gesungen und Reden gehalten, Reden ich weiss nicht mehr von wem, wahrscheinlich vom Bürgermeister Merkel und von dem damals jungen, mir aber doch schon recht alt vorkommenden Professor Dove, der vor vierzehn Tagen sein 50jähriges Doktorjubiläum gefeiert hat, damals aber Prorektor war; die Lieder dagegen
Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_12.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)