welche in neuester Gegenwart wahr ist und zugleich so ursprünglich, daß sie an das gebärende und maßgebende Alterthum der Poesie erinnert, an die Dichter anderer Jahrtausende, erreicht keiner. In jeder Erzählung Gotthelf’s liegt an Dichte und Innigkeit das Zeug zu einem „Hermann und Dorothea“; aber in keiner nimmt er auch nur den leisesten Anlauf, seinem Gedichte die Schönheit und Vollendung zu verschaffen, welche der künstlerische, gewissenhafte und ökonomische Goethe seinem einen, so zierlich und begrenzt gebauten Epos zu geben wußte. Und hierin liegt die andere Seite seines Wesens. Kein bekannter Dichter oder Schriftsteller lebt gegenwärtig, welcher so sein Licht unter den Scheffel stellt und in solchem Maße das verachtet, was man Technik, Kritik, Literaturgeschichte, Ästhetik, kurz Rechenschaft von seinem Thun und Lassen nennt in künstlerischer Beziehung. Und wenn wir uns nicht gänzlich irren, so liegt der Grund dieser seltsamen widerspuchsvollen Erscheinung weniger in einem unglückseligen Cynismus, als in der religiösen Weltanschauung des Verstorbenen. In der That scheint es mehr eine Art ascetischer Demuth und Entsagung gewesen zu sein, welche die weltliche äußere Kunstmäßigkeit und Zierde verachten ließ, ein herber puritanischer Barbarismus, welcher die Klarheit und Handlichkeit geläuterter Schönheit verwarf. Es hängt damit zusammen, daß er nie die geringste Koncession machte an die Allgemeingenießbarkeit und seine Werke unverwüstlich in dem Dialekte und Witze schrieb, welcher nur in dem engen alemannischen Gebiete ganz genossen werden kann. Er schien nichts davon nehmen noch hinzuthun zu wollen zu dem, was ihm sein Gott gegeben hatte, und alles künstlerische Bestreben für eine weltliche
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_156.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)