Einen Nekrolog können und wollen wir nicht schreiben, da uns dieß nicht zukommt. Alles, was wir von dem äußern Leben des verstorbenen Dichters wissen, ist, daß er am 4. October 1797 geboren, Theologie studirte und in der Gemeinde Lützelflüh in seinem Heimatkanton Bern als Pfarrer lebte; daß er erst gegen sein vierzigstes Jahr hin als Schriftsteller auftrat, aber dann eine solche Bedeutung gewann, daß sein Berliner Verleger ihm schon vor einiger Zeit 10 000 Taler für das Verlagsrecht seiner sämmtlichen Werke anbot, nach seinem Tode aber seiner Witwe, wie wir hören, eine große süddeutsche Buchhandlung sogar 50 000 Gulden für das gleiche Recht.
Dagegen wollen wir versuchen, noch einmal den Gesammteindruck zusammenzufassen, welchen Gotthelf und sein Wirken auf uns machte, und da müssen wir sogleich bekennen, daß er ohne alle Ausnahme das größte epische Talent war, welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte. Jeder, der noch gut und recht zu lesen versteht und nicht zu der leider gerade jetzt so großen Zahl derer gehört, die nicht einmal mehr richtig lesen können vor lauter Alexandrinerthum und oft das Gegentheil von dem herauslesen, was in einem Buche steht, wird dieß zugeben müssen. Man nennt ihn bald einen derben niederländischen Maler, bald einen Dorfgeschichtenschreiber, bald einen ausführlichen guten Kopisten der Natur, bald dieß, bald das, immer in einem günstigen beschränkten Sinne; aber die Wahrheit ist, daß er ein großes episches Genie ist. Wohl mögen Dickens und andere glänzender an Formbegabung, schlagender, gewandter im Schreiben, bewußter und zweckmäßiger im ganzen Thun sein: die tiefe und großartige Einfachheit Gotthelf’s,
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_155.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)