Am wunderlichsten nimmt sich in Jeremias Gotthelf’s Buche die geschlechtliche Ausschweifung aus, welche er dem Zeitgeist vindicirt. Er will damit offenbar auf die ländlichen Ehefrauen wirken, indem er die politischen Geschäftsgänge ihrer Männer stark verdächtigt. Überhaupt streichelt er den Weibern in einem wahren Hebammenstile den Bart: „Sie kam in die beschwerlichen weiblichen Zustände, welche körperlich und gemüthlich oft große Beschwerden bringen und in welchen oft das arme Weib es besser hat, als das reiche. Das alles mißstimmte Gritli und die Mißstimmungen überwand es nicht.“ O du feiner Gotthelfli! Wie wahr! Wie muß das den reichen stolzen Bauernfrauen munden, welche ein Bettelweib um seine leichte Niederkunft beneiden! Mißstimmungen! Hoffen wir indessen, daß die ehrenwerthen Berner Frauen männlicher und gesünder gesinnt sind und einen solchen Stimmungsjargon nicht annehmen und solchen den Blaustrümpfen deutscher Salons überlassen. Auch in anderer Weise verfällt Jeremias Gotthelf in’s Unmännliche, indem er immer wieder mit breiter Geschwätzigkeit die Interessen von Küche und Speisekammer behandelt und seine genaue Kenntniß der Milchtöpfe, der Hühner- und Schweineställe auskramt. Auch hierdurch glaubt er die Gunst der Hausfrauen zu gewinnen und durch die Küchenweisheit die politischen und religiösen Grundsätze einzuschmuggeln. Es ist aber nicht zu begreifen, wie ein so tiefer Kenner des Volkslebens in letzter Linie das Volk mißkennt und nicht weiß, daß dieses das allzu Nahe und Gewöhnliche kindisch findet, wenn es ihm gedruckt in einem Buche entgegentritt. Das kommt alles von dem unwahren Standpunkte, von welchem Jeremias Gotthelf ausgeht; der krasse Materialismus,
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_146.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)