folgende Ergebnisse hervorgebracht: Advokaten zanken ungescheut und öffentlich, gleich vor den Richtern, ihre Klienten aus, weil diese sich sträuben, einen Meineid abzulegen; Beamtenfrauen und sonstige weibliche Honoratioren, an einem Badeort versammelt, erklären unverhohlen, daß nunmehr, wo die Religion abgeschafft sei, eine Frau ihrem Manne Hörner aufsetzen dürfe und solle; die Radikalen veruntreuen nicht nur die Gelder des Staats, sondern auch als Gemeindevorsteher versaufen und verhuren sie das ihnen anvertraute Gut der Wittwen und Waisen, alles mit fortwährenden Reden von Humanität und Aufklärung u. s. f. Diese Thatsachen kommen zwar im Verlaufe des komponirten Romans vor, welcher diesen Auslassungen als Gerippe dient; da jedoch der Verfasser an andern Orten bestimmte Namen lebender Staatsmänner und Parteiführer bezeichnet, so kann man jene Artigkeiten nicht als poetische Licenzen, sondern nur als wahren Stoff betrachten, der dem Verfasser vorgelegen habe.
Wenn man nun die dem Buche zu Grunde liegende Dorfgeschichte betrachtet, an welche Jeremias Gotthelf seine Meinungen und Mahnungen knüpft, so trägt diese an sich schon in ihrem Motiv den Stempel der Unwahrheit. Zwei Bauern, reich, hoch und ansehnlich, männlich und christlich, sitzen auf ihren alten großen Höfen, befreundet und verwandt unter sich; einer kann sich auf den andern verlassen und beide stehen der Gemeinde mit Rath und That vor, tüchtig und besonnen. Da wird der eine vom Zeitgeist ergriffen; er geräth, indem er in ein Gericht gewählt wird, unter die Schriftgelehrten und Phrasenmacher, Regierungsstatthalter, Präsidenten u. s. f., wird als reicher und einflußreicher
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_144.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)