allererst. Gebildete können am Ende an einem wilden Produkte ein pathologisches Interesse nehmen und überhaupt Roßnägel verdauen, wie die tägliche Erfahrung zeigt; auf das Volk hingegen wirkt nur solide Arbeit, wenn es darüber auch keine gelehrte Rechenschaft gibt. Jeremias Gotthelf’s Hauptstärke ist einmal nicht die geistliche und politische Rhetorik an sich, so fest auch seine Gesinnung ist, sondern eben das stofflich Poetische; darum sollte er dieses in den Vordergrund treten lassen, wie er es früher auch gethan, als er noch nicht so von der Tendenz besessen war. Die Wahrheiten, welche er gern sagen möchte, alsdann an den rechten Stellen als Schlaglichter aufgesetzt oder vielmehr als organische Blüthen nothwendig erwachsen, würden so, wenigstens für den naiven Leser, eher eine überzeugende Wirkung gewinnen. Hierin liegt aber der Knotenpunkt, wo das Wollen mit dem Können auseinandergeht und welchem auch ein Talent wie Jeremias Gotthelf machtlos unterworfen ist.
Ein Parteimanifest zu verfassen, welches, sei es ein rhetorisches oder plastisch-poetisches, zugleich ein reines und gediegenes Kunstwerk sein soll (und wie gesagt, noch jedes aus alter und neuer Zeit ist ein solches gewesen und hat es sein müssen), dazu gehört eine über der Befangenheit der Partei schwebende unbefangene Seele, eine über die Leidenschaft sich erhebende Ruhe, welche aber jene kennt, durchlebt hat und zur Energie veredelt wieder in den Kampf führt; es gehört so viel guter Grund und Boden dazu als nöthig ist, nicht zur förmlichen Entstellung und Inkonsequenz greifen zu müssen; es gehört dazu eine gewisse Achtung des Gegners, um dessen Gefährlichkeit zu beweisen, ohne die eigene Partei
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_137.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)