mit einem Menschen, welcher den gekreuzigten Gottmenschen verehrt, ist immer noch mehr anzufangen als mit einem, der weder an die Menschen noch an die Götter glaubt. Wo reine Humanität fehlt, da muß die Religiosität das Fehlende ersetzen; wenn sie nur erwärmt und erhebt. Aber die Art und Weise, wie Gotthelf seinen Zweck verfolgt, ist zu verwerfen, nicht nur, weil sie pfäffisch und bösartig ist, sondern auch weil sie seine Schriften verdirbt.
Bitzius sagt in einer Vorrede: man werde ihm wenigstens nicht ein gedankenloses und feiles Segeln mit herrschenden Winden vorwerfen können. Das ist allerdings sehr wahr; er verfällt aber in das andere Extrem und sucht mit dem größten Eigensinn gegen den Strom zu schwimmen, und das ist für einen Volksschriftsteller auch nicht klug und weise. Ein solcher hat vom Volke ebenso viel zu lernen, als es von ihm lernen soll, und es ist seine Pflicht, auch ein wenig zu merken, was die Stunde geschlagen hat, wenn er segensreich wirken will.
Von welcher Art die Religiosität ist, welche Gotthelf zu seiner Verbündeten macht, mag man am besten aus folgender Geschichte ersehen, welche er in seinem „Pächter“ erzählt. Ein Bauer hat zur Zeit der Ernte seine ganze Jahresfrucht geschnitten auf dem Felde liegen. Es ist Sonntag und ein Gewitter im Anzug. Da macht der Bauer Anstalt, die Ernte zu retten und heimzuführen, ehe es zu spät ist. Eine uralte Großmutter beschwört ihn, nichts zu thun, denn solches sei auf diesem Hofe noch nie vorgekommen; so lange er bestehe, sei am Sonntag nichts gearbeitet worden. Der Mann mochte aber etwas von dem Esel, welcher in eine Grube gefallen und von der Jünger Ährenrupfen gelesen
Gottfried Keller: [Über] Jeremias Gotthelf. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keller_Gotthelf_108.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)