Nicht gesehn den goldnen Apfel,
Dieß mein liebes Silberstöcklein?“
Und der Mond, den Gott geschaffen,
Gab gar klüglich diese Antwort:
„Trage Sorge um mich selber,
Da ein hartes Loos ich habe
Und in Unglück bin gesetzet,
Einsam in der Nacht zu wandern,
Bei dem härtsten Frost zu leuchten,
In dem Winter streng zu wachen,
In dem Sommer zu verkommen.“
Suchte lange den Verschwundnen,
Sucht ihn ohne ihn zu finden,
Kommt die Sonne ihr entgegen,
„Sonne, du von Gott geschaffne,
Hast du meinen Sohn gesehen,
Nicht gesehn den goldnen Apfel,
Dieß mein liebes Silberstöcklein?“
Wissen mußt’ es schon die Sonne,
Also gab sie ihr zur Antwort:
„Schon verkommen ist dein Söhnlein,
Schon gestorben er, der Ärmste,
In dem schwarzen Flusse Tuoni’s,
In den Wasserfall gestürzet,
In den Wirbel hingesunken
Zu der Gränze von Tuonela,
Zu den Thälern von Manala.“
Lemminkäinen’s Mutter selber
Mußte nun gar heftig weinen,
Gehet zu des Schmiedes Esse:
„Ilmarinen du, der Schmieder,
Schmiedetst früher, schmiedetst gestern,
Eine Hark’ mit Schaft von Kupfer
Und mit Zähnen starken Eisens,
Hundert Klafter lang die Zähne,
Fünf der Klafter lang am Schafte.“
Selbst der Schmieder Ilmarinen,
Er, der ew’ge Schmiedekünstler,
Macht den Kupferschaft der Harke,
Macht sodann die Eisenzähne,
Hundert Klafter lang die Zähne,
Selbst die Mutter Lemminkäinen’s
Nimmt die Harke starken Eisens,
Fliegt zum Flusse von Tuonela,
Betet also zu der Sonne:
„Sonne, du von Gott geschaffne,
Die den Schöpfer überstrahlet,
Leucht’ ein Weilchen voller Hitze,
Schein’ ein Weilchen, daß man schwitze,
Scheine drittens voller Schärfe,
Mache matt das Volk Manala’s
Und ermüd’ das Reich Tuoni’s.
Die von Gott geschaffne Sonne,
Sie, das liebe Kind des Schöpfers,
Flieget zu der Birke Höhlung,
Senkt sich auf der Erle Krümmung,
Scheint ein Weilchen voller Hitze,
Scheint ein zweites, daß man schwitzet,
Scheinet drittens voller Schärfe,
Machet matt das Volk Manala’s,
Junge Männer mit den Schwertern,
Alte Männer an den Stäben
Und die Mittleren am Speere,
Schwebend fliegt sie drauf von dannen,
Fliegt hinauf zum ebnen Himmel
An die längstgewohnte Stelle,
An die alte Stätte wieder.
Lemminkäinen’s Mutter nimmt nun
Harkt und sucht nach ihrem Sohne
In dem Wasserfall voll Brausen,
In der Strömung voller Lärmen,
Harkte, ohne ihn zu finden.
Sie begiebt sich darauf tiefer,
Steigt hinab in das Gewässer,
Bis zum Strumpfband in die Fluthen,
Bis zum Gürtel in die Wogen.
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_077.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)