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Geistliche Gerichtsbarkeit des Klosters St. Gallen.
[von 920 bis 1076.] Die Bischöfe ließen ihre Gerichtsbarkeit durch die Erz Priester [arx 257.]
verwalten, und übten dieselbe an den Sendgerichten (Synodo) sehr
schmerzhaft auß. Wenn der Erzpriester solche in einer gemeind abhalten
wollte, forderte er die seiben angesehensten Männer derselben zu sich,
und ließ sie einen Eyd ablegen, das sie ihm alle seine Fragen getreu und
Wahrhaft beantworten wollten. Darauf fragte er sie, ob sich in der
Pfarre ein Nörder, Zauberer, Wahrsager, Segen sprecher, oder ein Weib,
das sich viele Künste rühme befinde? Ob die Weiber bym Spinnen
und Wolle weben, Aberglauben trieben? Ob Jemand den Zehnten
nicht geben wolle oder mit verachtung seines Pfarrers eine andere Kirchen
besuche, dort kommuniziere, und den Zehnten dahin gebe? Ob jemand
den Wallfahrtern und Reisenden die Herberg abschlage, oder ob Je-
mand in der Nähe der Kirchen unzüchtige Lieder singe.
Die, welche die Sieben beeidigten Männer angaben, wurden also bald
vor gefordert, und wenn sie freye Leute waren, mit Bethen, Fasten,
Geldbeyträgen zufromen Wercken, die Leibeigene oder Zins Leute
aber mit Ruthen abgetraft, welche an den Sendgerichten nebst
einer Scheere und dem Evangelienbuch immer auf dem Tische vor dem Erz-
priester lagen; wolte sich jemand dieser Strafen nicht unterziehen,
über den wurde der Kirchenbann verhängt. Jn der zwischen der
Sitthern und Goldach gelegenen Pfarrey St. Gallen, hielt zufolge
eines vom Abt Bischofe Salomon III. erhaltenen, vom Kayser Karl
dem Dicken, und vom Pabst Johannes bestättigten Freyheits Briefes,
der Pfarrer nicht nur die Sendgerichte, sondern übte außert der Ehe-
scheidungen auch alle andere Rechtsame eines Erzpriesters auß.
In einem solchen Gerichte ward zu den Zeiten der hl. Wiborad eine
Kinds mörderyn von dem Volk verurtheilt, an einen Pfahl gebunden
mit Ruthen zerschlagen, der Haare beraubet, und ein Jahr lang vor
der Kirchen des hl. St. Mangs § alle Sonntag und Feyrtage in blosen
Füßen außgestelt zu werden. (§ Ao. 690 ist die St. Mangen Kirchen erbauen.)
Die Bischöfe suchten zwar vom Jahr taußend an, dem Kloster
diese geistliche Gerichtsbarkeit wieder abzunehmen, und bestell-
ten für die st.gallische Pfarrey einen besondern Erzpriester; aber
da dieser einige Weibspersonen, die sich Zauberey verdächtig ge-
macht hatten, die kalte Waßer probe zu machen zwang, und selbst
gegenwertig war, als man sie ganz entkleidet in ein fliesendes Waser
warf um zusehen, ob sie hinunter säncken, das war unschuldig, oder
aber
Johann Bartholome Rechsteiner: Beschreibung der Gemeinde Speicher. , 1810, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KB_AR_Rechsteiner_Chronik_Ms401-034_Seite_33.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2024)