können, ob sie Heiligenbilder sind oder Amazonen. Ich glaube, der Anblick dieser reinen Züge hat mich besser gemacht; andächtige Gefühle durchschauern mich, ich höre Engelstimmen, unsichtbare Friedenspalmen fächeln, in meine Seele steigt ein großer Hymnus – da erklirren plötzlich schnarrende Harfensaiten, und eine Alteweiberstimme quäkt: „Wir winden dir den Jungfernkranz u. s. w.“
Und nun den ganzen Tag verläßt mich nicht das vermaledeite Lied. Die schönsten Momente verbittert es mir. Sogar wenn ich bey Tisch sitze, wird es mir vom Sänger Heinsius als Dessert vorgedudelt. Den ganzen Nachmittag werde ich mit „veilchenblauer Seide“ gewürgt. Dort wird der Jungfernkranz von einem Lahmen abgeorgelt, hier wird er von einem Blinden heruntergefidelt. Am Abend geht der Spuk erst recht los. Das ist ein Flöten, und ein Gröhlen, und ein Fistuliren, und ein Gurgeln,
Heinrich Heine: Der Jungfernkranz. Hoffmann und Campe, Hamburg 1827, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Heine_Jungfernkranz_Seite_306.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)