Künsten, in Vermögen und Lebensgewohnheiten. Jene Riesengeister um die Wende des zwölften Jahrhunderts schufen innerhalb der kurzen Lebensdauer dreier Geschlechter Bauten, vor deren Kühnheit und Weisheit ohne Gleichen man staunend verstummen muß. In Höhen, in denen wir die Helme unserer Thürme zu beginnen pflegen, spannten sie ihre Wölbungen über Räume, die man heutzutage mit aller Wissenschaft nur schüchtern tief unten zu überwölben wagt. In nie gekanntem Wagemuthe ragen ihre Thürme in die Lüfte, durchbrochen und ausgearbeitet wie feinstes Spitzenwerk und doch den Stürmen von Jahrhunderten trotzend — und ihnen standen nicht das Eisen und der Dampf zum Dienste bereit. Ihre Simse und Knäufe schmücken sich zum ersten Male mit heimischen Laubwerk und Gethier, einer Zier, die den hochgerühmten Formen der Hellenen sich kühnlich an die Seite stellen darf. Was haben wir dagegen als Eigenthum unserer Zeit zu bieten? Jeder damals erschaffene Bautheil athmet neues Leben und stellt in neuen Formen dar, was Construction und Klima, was heimische Sitte und Landesbrauch vernunftgemäß fordern.
Das Mittelalter war groß genug, um selbst Großes zu erzeugen. Und zu seinen Schöpfungen gehört die Predigtkirche, für die allenthalben im Lande in natürlicher Weise das Bedürfniß vorhanden war.
Max Hasak: Die Predigtkirche im Mittelalter. Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin 1893, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hasak_-_Die_Predigtkirche_im_Mittelalter_-_42.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)