Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Jahr 1926 | |
|
Der Winter brachte doch allerhand. Einmal
machte mir Vater ein Vergnügen. Der Schnee
lag so hoch und so schwer auf dem Dach, daß
Vater Angst hatte, es könne einbrechen oder
leck werden. Die Dächer waren damals alle mit
Holzschindeln gedeckt. So stieg er denn auf die
hintere Bodenkammer und stieß mit der Schaufel
den Schnee herunter. Als das nicht ausreichte,
kletterte er zum Fenster hinaus auf das schräg
abfallende Dach. Mutter und ich waren in der
Stube darunter. Auf einmal wurde es stockdunkel.
Eine Lawine ging nieder, etwas Schwarzes,
Vater, mittendrin. Mutter schrie auf. Ich
fand es herrlich. Unverletzt arbeitete er sich
aus dem tiefen Schnee. Von Mutter bekam er
Schelte, ich aber wäre gern auch mal so vom
Dach gefahren.
Unserm Hause gegenüber – zu gehen 5–6 Stunden weit – ragte der mächtige Buckel des Brockens. Wenn von da der Ostwind seine scharfen, spitzen Eishörnchen hertrieb, wohnten wir nur in der hinteren Stube. Vater rückte von seinem Schreibtisch mit einem dürrbeinigen Tischchen an den eisernen Ofen. Während er hinten aufsengte, froren ihm Füße und Knie unter der wollenen Decke. Die Läden bis auf einen blieben geschlossen, und die Fensterbank war auch noch verstopft, wo es nur anging.
Da wurde denn viel Licht bebrannt, aber das war noch billig. Solch ein Sparöllicht war viel unterhaltender als die neumodischen Gas- oder elektrischen Lampen. Besonders der Docht mußte mit einer eisernen Nadel von Zeit zu Zeit höher gedrückt und von der Schlacke gereinigt werden.
Ich war schon nicht mehr ganz klein, da kauften die Eltern Astrallampen. Das war eine Pracht! Die standen wie der Storch auf einem dünnen Messingbein. Vorn war der Kopf, die Kuppel, und hinten auf dem Rücken ein Fäßchen. Keiner wagte sich gern daran. Sie standen auf der Kommode in der guten Stube. Da bei uns gespart werden mußte, wurde ein Fuß der Kommode, der losgegangen war, eine Zeitlang immer darunter geschoben. Um deswillen konnte man doch keinen Tischler kommen lassen. Und da war es wieder mein guter Vater, der uns allen eine Freude machte.
In der Dunkelheit ging er an die Kommode, zog eine Schublade heraus, der lose Fuß rutschte weg. Wir hörten einen Krach, ein Klirren und waren überglücklich, daß wir die Lampen nicht zertrümmert hatten.
Um Weihnachten freuten wir uns auf den Baum wie andere Kinder. Ich weiß aber auch Weihnachten, wo es nicht einmal ein Bäumchen gab. Das war hart für das kleine Herzchen. Vater war dann immer sorgenvoll, aber Mutter fand zumeist einige Milchpfennige, um uns was zu bescheren.
Überirdischwar es für mich, wenn nach dem bescheidenen Lichterglanze, der unsere Augen geblendet hatte, wir oben unter dem Dache in unseren Betten lagen, immer zwei in einem. Da rüttelte der Ostwind an den Schindeln, daß es klang, als ob jemand bis an die Kammertür ginge und wieder zurück, hin und her. Es gruselte einen, und dann auf einmal so um Mitternacht jubelten helle Knabenstimmen durch Schnee und Wind zu uns herauf: Vom Himmel hoch ...
Es waren Schüler, die in ihren langen schwarzen Mänteln und hohem schwarzen Hut durch den Schnee stapften. Ja, es kam nicht von der Erde, das kam vom Himmel.
Schnee und immer Schnee. Um vier Uhr in der Nacht läutete die Frühglocke. Wachte ich, so mußte ich an meinen Großvater und an die anderen Bergleute denken. Aufden verschneiten Anfahrwegen tappten sie an den Fichtenstangen, die ihnen als Wegweiser dienen sollten, nach den Gruben. Wenn sie nur erst das Gaipelglöckchen hörten!
Der Harz war wie eine Wüste, ohne Weg und Steg. Leute, die über den Bruchberg gingen, blieben stecken. Die Kiepenfrauen, die von Osterode kamen, erzählten, wie man einen erfrorenen gefunden habe. Er war so hart, daß er wie Holz klang, wenn man mit dem Finger anklopfte.
Als ich erst zur Schule ging, konnte ich manchmal nicht über die Schneewindwehen, die sich zwischen den einzelstehenden Häusern unserer Straße auftürmten. Mutter behielt mich dann zu Hause, und das war mir damals wie auch sonst nicht unlieb.[WS 1]
Und dann kam die Sonne. Der Schnee wurde schmutzig. Die Decke zerriß auf den Wiesen, graugrüne Flicken überall. Vor den Türen machten die Nachbarn mit Axt und Schaufel Sommer. Da waren wieder Pflastersteine. In den Gossen rauschte und gurgelte das Wasser. Da dämmten wir. Über den Fahrweg hüpften die ersten Bachstelzen. O, wie das zierlich war, wenn sie das Köpfchen haben und mit dem Schwanz wippten! Die Sperlinge lärmten. Die Sonne, die Sonne!
Der Flausrock, die Pudelmütze, die Fausthandschuhe, die Schaftstiefel, der lange Schal, all das Zeug, in dem wir wie Eskimos herumgestiegen waren, verschwand in irgend einer Truhe. Wir waren frei und leicht und glücklich.
Auch nach Clausthal kam der Frühling.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Doppeltes Satzzeichen
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Jahr 1926. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1925, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1926_022.png&oldid=- (Version vom 5.1.2019)