einen eigentümlichen Weg gegangen ist, den Weg des abendländischen Humanismus. Je mehr die Kirche diesem humanistischen Geist gefolgt ist, um so krampfhafter hat sie sich an den anderen Geist geklammert, den ich den Geist des Wahnes nennen möchte. Heute ist die Spannung zwischen diesem humanistischen, naturwissenschaftlichen Geist u. dem Geiste des Wahnes so groß geworden, daß er zu zerreißen droht. Diese Spannung empfinde ich jetzt deutlicher als je. Ich habe sie immer empfunden, aber ich konnte das auf sich beruhen lassen, das geht heute nicht mehr. Ich befinde mich heute inmitten dieser Spannung u. ich weiß noch nicht, wohin mich das führen wird, aber ich bin jetzt nicht mehr in der Lage, gewisse Dogmen der Kirche widerspruchslos hinzunehmen. Es wäre Feigheit, davor die Augen zu verschließen u. ich habe genug Mut, diesen Dingen ins Auge zu sehen.
[Eingeklebte Anzeige:]
Für die zahlreichen Beweise herzlicher Anteilnahme beim Heimgange meines geliebten Mannes, unseres guten Vaters und Sohnes, des Chemikers
sagen wir, im Namen aller Hinterbliebenen, unseren tiefempfundenen Dank.
Berlin-Charlottenburg, im Juni 1951
Lötzener Allee 9
Zufällig finde ich in einem Exemplar des „Tagesspiegel“ nebenstehende Anzeige. Dr. H. Isensee war der Mann meiner Tochter Ruth, also mein Schwiegersohn, den ich nie gekannt noch je gesehen habe. Da er in dieser Anzeige nicht auch „Schwiegersohn“ genannt wird, glaube ich daraus schließen zu dürfen, daß auch meine ehemalige Frau, die Mutter Ruth's, inzwischen gestorben sein wird. Sie würde andernfalls heute 76 Jahre alt sein. – Eine Anzeige weder im einen noch im anderen Falle hat mir meine Tochter also nicht gesandt u. ich kann daraus entnehmen, daß sich auch heute noch in ihrer Haßeinstellung gegen mich nichts geändert haben wird. –
Gestern machte ich eine farbige Federzeichnung nach einer Notiz, die ich mir kürzlich in Eggersdorf vom Balkon aus machte, Blick auf eine Häusergruppe, ein sehr belangloses Motiv, das mich eben deshalb reizte. – Heute werde ich an dem Waldbilde arbeiten.
Als ich vor einem reichlichen Jahre in die Friedrichstraße zog, fiel mir besonders auf, daß man in Berlin sehr viele sogen. Volkspolizisten sah, Leute, die spazieren gingen u. offensichtlich mit der eigentlichen Straßenpolizei nichts zu tun hatten, sie trugen nur dieselbe Uniform. – Mit der Zeit tauchten dann auch hier u. da Leute auf, die dieselbe Uniform, aber mit Offiziers=Schulterstücken, trugen, meist Leutnants,
Hans Brass: TBHB 1951-07-18. , 1951, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1951-07-19_001.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2024)