Die Einsicht, daß die Vollendung des Lebens nicht darin besteht im buddhistischen oder im christlich-ascetischen Sinne alle Wünsche abzutöten, den Durst zu löschen, wie Buddha sagt – diese Einsicht ist mir durch das unerwartete Auftauchen Elisabeth's zuteil geworden. Dieses Erleben brachte mich zu der neuen Einsicht, daß mein Leben bei meinem Tode infolge der Operation eben durchaus noch nicht vollendet gewesen wäre, wie ich glaubte, sondern daß es dann unvollendet abgeschnitten worden sei. Zur Vollendung gehörte eben unbedingt noch die Vollendung meiner künstlerischen Aufgaben, die mir ja auch von Gott gestellt wurden, die er von mir verlangt, die zur Verähnlichung meiner selbst mit seiner Idee von mir gehören u. die ich so lange Jahre sträflich vernachlässigt hatte. Ich betrachte es heute als eine geradezu staunenswerte Gnade Gottes, daß er mir nun noch die Frist gelassen hat, diese Aufgabe zu lösen, – ich hätte ja auch unvollendet sterben können u. hätte dann nie mehr die Möglichkeit gehabt, das Versäumte nachzuholen. Es ist staunenswert, daß Gott mir diese Gnade zuteil werden ließ u. es ist ein sehr hohes Glücksgefühl zu spüren, daß ich so fest u. sicher in Gottes Hand ruhe u. daß er mich selbst zu dem mir bestimmten Ziele führt, auch wenn ich selbst dieses Ziel nicht sehe, sondern nur ahne.
Diese Einsicht wurzelt in der neuen Erkenntnis, daß wir Menschen Organe Gottes sind, die er sich geschaffen hat, um durch uns die sonst gottfremde Materie zu erfahren –, d. h. sie zu erlösen.
Diesen Gedanken, der ja auch ganz dogmatisch ist, habe ich wohl schon immer gehabt, aber ich habe ihn nicht besonders beachtet, er blieb im Hintergrunde. Ich dachte nur immer an meine eigene Seligkeit, die ich durch eine Art Kurzschluß zu erreichen hoffte, in dem ich mich durch eigene Kraft abzutöten suchte. Das ist christlicher Egoismuß u. entspricht nicht den Absichten Gottes, ja, er durchkreuzt sie. Gott will durch mich die Materie erfahren, ich bin Organ Gottes u. dazu bestimmt, an der Erlösung und Vergöttlichung der Materie mitzuarbeiten. Und ich tue das mit meiner Malerei so gut ich eben kann. Ich male nicht, um die äußere Schönheit der Natur wiederzugeben, wie die abendländischen Künstler das seit der Renaissance bis zum Impressionismus getan haben, sondern ich versuche, das innere Wesen u. die Gesetzmäßigkeit der Erscheinung klar hinzustellen. Wieweit mir das gelingt, ist eine müßige Frage, es kommt nur auf die Absicht an. Meine Malerei ist der Versuch der Erlösung der Materie aus ihrer Stofflichkeit –, u. so fühle ich mich als Mitarbeiter Gottes am Erlösungswerk. –
Dabei hat mich meine veränderte Haltung der Kirche gegenüber zunächst sehr irritiert. Ich werde mir allmählich klarer darüber. Ich sehe jetzt, daß diese Kirche in der Renaissance
Hans Brass: TBHB 1951-07-18. , 1951, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1951-07-18_003.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2024)