ewige Seligkeit ankäme u. daß zur Erringung derselben in erster Linie die Abtötung der Sinne notwendig sei –, ganz im Sinne Buddhas. Ich hatte mir bewußt die Aufgabe gestellt, diese ewige Seligkeit zu erringen. Unter dieser verstand ich die größtmögliche Verähnlichung meiner selbst mit dem Bilde meiner von Gott geschaffenen Geistpersönlichkeit. Diese Geistpersönlichkeit, welche ich mir als das von Gott erdachte Bild meiner selbst vorstellte u. die sie wohl auch ist, wollte ich bis zu meinem Todestage in möglichster Vollendung erreichen. In der Stunde meines Todes, so dachte ich's mir, würden dann die letzten, durch die materielle Existenz bedingten u. notwendigen Schranken von selbst fallen, die mich noch von der Vollendung trennten u. ich würde so in die Seligkeit eingehen. So deutete ich das Goethewort: „Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“. Unter Persönlichkeit verstand ich eben die Verwirklichung jener Idee Gottes von mir selbst. Und diesem Gedanken habe ich dann bewußt meinen Beruf u. alle anderen Wünsche geopfert.
Nun ist der Zeitpunkt da, wo ich mir Rechenschaft abzulegen habe, wie ich jetzt darüber denke, ob ich nach wie vor zu dieser Idee stehe, oder ob ich sie als Irrtum betrachte.
Wäre dies letztere der Fall, dann wäre das so erschütternd, daß sich ein weiteres Leben kaum noch lohnen würde. Ich hätte 30 Jahre meines Lebens umsonst vertan u. würde nun jetzt vor einem völligen Bankrott stehen. – Aber so ist es nicht! – Vielmehr ist in diesen 30 Jahren eine Frucht reif geworden, die ich heute pflücken darf. Daß diese Frucht aus der Einsicht entstammt, einen Irrtum begangen zu haben, vermindert die Köstlichkeit dieser Frucht nicht, vielmehr gibt mir diese Tatsache ein sehr großes Glücksgefühl.
Wäre mir diese Einsicht nie gekommen u. wäre ich im Irrtum gestorben, wie ich mir das gedacht hatte, dann wären die letzten Jahre meines Lebens zwar, „glücklich“ verlaufen, aber nur im Sinne irdischen Glückes. Es hätte dann keine Katastrophen gegeben, kein Leid, weder für mich noch für M. mein Ende wäre harmonisch gewesen im Bewußtsein, die größtmögliche Verähnlichung mit Gottes Idee von mir erreicht zu haben u. ich wäre zufrieden gestorben. So hätte es bei der letzten Operation gut sein können u. so erwartete ich es auch. Ich begriff damals nicht, weshalb ich wieder gesund wurde, da ich doch m. E. mein Leben u. die mir gestellte Aufgabe vollendet hatte. Wozu sollte ich noch weiter leben? – was wollte Gott noch von mir? – Das weitere Leben konnte doch nur noch ein stilles Warten auf den Tod bedeuten, u. so wäre mein Weiterleben neben M. auch tatsächlich geworden: ein stilles Warten auf den Tod –, eine Überflüssigkeit. Und an Überflüssigkeiten im Leben kann ich nicht glauben, da ich zu fest davon überzeugt bin, daß mein Leben durchaus zweckvoll ist –, wenngleich ich seinen Zweck auch nicht klar erkennen kann, sondern ihn nur ahne.
Hans Brass: TBHB 1951-07-18. , 1951, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1951-07-18_002.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2024)