Heute früh um 4 Uhr hatten sich die zum Schippen Kommandierten vor dem Kaffee Namenlos zu versammeln. Es war eine merkwürdig stimmung= u. charakterlose Versammlung. Es war noch ganz dunkel, der abnehmende Mond stand am nordöstlichen Himmel. Im Kaffee Namenlos wurden durch den Bürgermeister Gräff u. den polit. Zellenwart, den Lehrer Deutschmann die letzten Formalitäten der Lebensmittelkarten erledigt, die übrigen standen auf der Straße herum, jeder bei seinem kleinen Gepäck. Da es dunkel war, konnte man die Gesichter nicht erkennen. Als ich mit Martha hinkam, traf ich erst wenige Menschen an. Mit uns kam grade auch Frau Siegert dazu. Ich rief in das kleine Häuflein Menschen mit sehr lauter Stimme „Heil Hitler“, – aber es wurde nur zaghaft geantwortet, auch Frau S. antwortete nicht. Kurz vor 5 Uhr fuhren alle los, es war inzwischen eine Ansammlung von 55 bis 60 Menschen geworden oder noch mehr, weil ja viele Angehörige mit dabei waren. Als Erster fuhr Spangenberg mit seinem Leiterwagen. Mit ihm fuhren Paul u. Trude Dade, die von ihrer Mutter gebracht worden war. Danach fuhr Paetow's Leiterwagen u. dann noch ein dritter Wagen, wie ich glaube, doch wartete ich diese nicht ab. Die jüngeren Mädchen, besonders die ortsfremden Dienstmädchen, markierten Lustigkeit. Der Bürgermeister klagte mir gegenüber, daß niemand dabei sei, der Mundharmonika spielte, – dann wäre die Stimmung besser.
Nachmittags. Heute früh sind französische, amerikanische, englische u. kanadische Truppen in Südfrankreich gelandet. Der Widerstand von deutscher Seite ist schwach. In der Normandie ist nun auch eine französische Panzerdivision im Einsatz. General de Gaulle hat einen Aufruf zur Erhebung des ganzen französischen Volkes erlassen.
Generalfeldmarschall Paulus ist mit sieben anderen Generalen dem Komitee Freies Deutschland u. dem Bunde kriegsgefangener deutscher Offiziere in Moskau offiziell beigetreten. Der Präsident, General v. Seydlitz, hat dazu eine Erklärung erlassen.
In der Normandie sind die zurückweichenden Deutschen weiter eingeengt worden.
Abends. Neues ist nicht bekannt geworden. Die Landung an der südfranz. Küste ist in etwa 150 km. Breite erfolgt im Raum zwischen Marseille u. Nizza, anscheinend ohne jede Schwierigkeit. – In der Normandie scheint die Einkesselung der 7. Armee ziemlich vollendet zu sein. Die Russen versuchen wieder in Richtung Lyck vorzustoßen. Auch in Estland scheinen sie in Richtung Dorpat vorzugehen. – Gestern u. heute haben sehr schwere Luftangriffe gegen Flugplätze in Belgien, Holland u. der deutschen Westgrenze stattgefunden, deren Sinn mir nicht klar ist. Ob es sich um die Vorbereitung neuer Landungen handelt? nicht ausgeschlossen!
Uebrigens scheint Kesselring doch noch in Italien zu sein u. Marschall Graziani hat nur den Oberbefehl über die neuen italienischen Divisionen, die nach dem italienischen Zusammenbruch in Deutschland neu aufgestellt u. ausgebildet worden sind u. die nun in Italien neu eingesetzt zu sein scheinen.
Hans Brass: TBHB 1944-08-15. , 1944, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1944-08-15_001.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2024)