schönen Herbstabende war sie aber mit ihren Kindlein hinausgegangen vor die Burg, und saß da auf der Steinbank unter den Linden, ihren Eheherrn erwartend. Ihre Kindlein aber, beide erst zweijährig, spielten um sie kriechend in dem hohen Grase, und sorglos hatte sie ihrem Spiele die schwarze Zither überlassen, die der Knabe an dem breiten Goldbande, wie einen Wagen, umher zog. Da geschah es, als eben das Knäblein die Zither hinter eine fernstehende Rosenhecke gezogen, daß der Feind des Ritters hinter den Bäumen hervorkam. Und er faßte das spielende Mägdlein, und schwang sich auf sein schwarzes Roß, und ritt mit ihm fliegend von dannen. Aber die Mutter eilte zu spät nach der Zither, und jammerte vergebens ihm nach.
Und selbigen Abend kniete sie betend im einsamsten Winkel des Burghofes bei der Kapelle; da war ihr Gemahl seinen Knappen lange voraus zurückgekommen, und trat vor sie und sprach: „Hast mir meinen Liebling verloren an meinen Feind; – mußt drum hier sterben im grünen Grase.“ Da hieb er ihr mit seinem breiten Schwerte eine tiefe Wunde in den Scheitel bis herein in die Stirne, und sie sank sterbend zu Boden. Als sie aber todt war, begrub er sie an selbiger Stätte neben der Kapellenwand, und schloß den Winkel, da ihr Grab war, mit einer sehr hohen Mauer vom Burghofe ab, noch ehe seine Knappen
Albert Ludwig Grimm: Lina’s Mährchenbuch, Band 2. Julius Moritz Gebhardt, Grimma [1837], Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimm_Linas_Maerchenbuch_II_098.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)