vernommen hätten, aber dazwischen auch ein leises Wimmern und Hilferufen. Indem diese Erinnerungen alle durch seine Seele zogen, zog auch der wundersüße Klang gar lockend wieder herüber aus der Höhe des Thurms. Und er konnte nicht länger mehr dem geheimen Zuge, noch seiner Neugierde widerstehn. Es war ihm, als enthalte der Thurm ein großes, kaum zu fassendes Glück, das er nur jetzt erwerben könne, oder nie. Darum machte er sich auf, und warf sich in seine Kleider, und eilte hinaus, die Wendeltreppe hinab und durch das offene Thor in den Burghof der Kapelle zu und dem Thurme. Aber da stand er, und schaute hinauf, und suchte hier und suchte dort, und da war kein Eingang, als der fest vermauerte und mit Steinen verschüttete. Da fiel ihm endlich ein, ob nicht vielleicht jenseits der Mauer, die zwischen dem Thurme und der Kapelle hinzog, eine zugängliche Thür zu finden sei. Darum kletterte er schnell die Mauer hinan, und in einem kühnen Sprung schwang er sich jenseits hinab. Die Höhe war aber allzubeträchtlich gewesen; er lag jenseits ohne Bewußtsein auf dem Rasen.
Wieder aus einer ohnmächtigen Betäubung aufwachend, fand er sich in einem von der Mauer, dem Thurme und der Kapellenwand umschlossenen Winkel, und neben sich gewahrte er einen Grabhügel, darauf steckte ein hölzernes Kreuz. Aber die Hollunderbüsche bei der Kapellenwand neigten sich
Albert Ludwig Grimm: Lina’s Mährchenbuch, Band 2. Julius Moritz Gebhardt, Grimma [1837], Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimm_Linas_Maerchenbuch_II_093.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)