Doch es überlief ihn kalt, als er sie betrachtete. Denn das Laub der einen Seite des Baumes war nicht mehr frischgrün, wie ehemals, sondern schien gelblich, als wollt’ es ersterben. Und als er nun mit bangem Herzen hintrat, und seines Bruders Messerlein auszog aus dem Stamme, da traten ihm Thränen in die Augen, und kalt fiel’s ihm auf’s Herz, und warm lief’s ihm wieder vom Herzen, denn das Messer war rostig über und über.
Da setzte er sich nieder in den Schatten der alten Eiche, und ihm war’s trübe in seiner Seele, und war ihm leid, daß er nicht singen konnte, sonst hätt’ er ein Lied gesungen, ein traurig Lied von dem Tode seines Bruders. Und er blieb da sitzen, bis es Abend ward und die Sonne unterging. Da seufzte er tief auf, und es fiel ihm eine Thräne aus jedem Auge, denn er gedachte bei sich: „So sanft und heiter, wie die Sonne, des Himmels Auge, eben so sanft und heiter waren auch die Augen meines geschiedenen Bruders, und sind jetzt geschlossen in Todesnacht.“
Und er blieb sitzen bis es Nacht war, und alles Leben entschlafen war, und starrte hinaus in die Dunkelheit des Nachthimmels, und dachte bei sich: „So still, wie die Nacht, ist’s jetzt um Brunnenhold, und ist ewig still um ihn; und er hört nie mehr das muntre Leben sich um ihn regen.“
Albert Ludwig Grimm: Lina’s Mährchenbuch, Band 2. Julius Moritz Gebhardt, Grimma [1837], Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimm_Linas_Maerchenbuch_II_070.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)